Göttertrank
konnte, erkundete ich die Gärten und Ställe zusammen mit den anderen Kindern der Bediensteten. Manchmal gesellte sich uns auch der Sohn des Grafen hinzu. Julius war zwar sechs Jahre älter als ich, aber er hatte durchaus seinen Spaß daran, mit uns Kleineren Verstecken, Haschen oder Ball zu spielen. Ich sah bewundernd zu ihm auf, und er betrachtete mich, wie mir schien, mit nachsichtiger Belustigung. Vor allem meine Weigerung, Kakao zu trinken – ein seltener Genuss, den die anderen an Ostern oder Weihnachten immer mit lautem Jubel begrüßten -, nahm er zum Anlass, mich liebevoll zu necken. Dann aber verschwand er aus meinem Leben, zumindest für die meiste Zeit, denn er besuchte, als er neun wurde, ein Knabeninternat in Berlin. Nur zu den Ferien erschien er auf dem Gut, und dann wurde er oft von seinen Eltern in Beschlag genommen. Viel Zeit für ausgelassene Spiele blieb ihm somit nicht mehr.
Doch auch meine Tage unbeschwerten Nichtstuns waren vorüber. Ab meinem fünften Lebensjahr besuchte ich mit den Dorfkindern die kleine Schule und lernte das Geheimnis des Abc kennen. Ich fand es lustig und freute mich darüber, dass die Frau Gräfin mir, als sie mich an einem Nachmittag auf meiner Schiefertafel Wörter malen sah, ein paar alte Fibeln brachte, die zuvor Julius benutzt hatte. Begeistert buchstabierte ich darin herum.
Die gnädige Frau, Besucher nannten sie achtungsvoll Lady Henrietta, denn ihre Eltern stammten aus einem anderen Land, genau wie Nanny auch, war eine schöne Dame. Ganz anders als Mama, obwohl ich die auch sehr hübsch fand. Bei Lady Henrietta lag es nicht nur an den eleganten Kleidern und dem sorgfältig frisierten Haar, sondern auch in ihren ruhigen, würdevollen Bewegungen. Nie sprach sie laut, sondern immer in warmer, sanft modulierter Stimme, selbst wenn sie den Leuten Anweisungen erteilte. Nie ließ sie es dabei an einem Bitte oder Danke fehlen, und meist begleitete ihre Worte ein leichtes Lächeln. Sie war lange nicht so hochnäsig wie die Haushälterin oder so steif wie der Majordomus. Ich verehrte sie, und Lady Henrietta schien mich ebenfalls zu mögen. Sie arbeitete gerne in dem Blumengarten hinter dem Haus, und wenn sie mich sah, rief sie mich zu sich und zeigte mir, wie man Unkraut zwischen den Levkojen zu zupfen hatte oder verblühte Blüten aus den Rosen entfernte. Dabei hörte sie aufmerksam meinen Erlebnissen zu, über die ich mit ihr freimütig zu plappern pflegte. Wenn sie mit der Gartenarbeit fertig war, nahm die Gräfin mich an die Hand und lieferte mich eigenhändig in der Küche ab. Oft sagte sie zu meiner Mutter solche Dinge wie: »Birte, Ihre kleine Tochter ist ein wahrer Sonnenschein.«
Mama knickste dann und mahnte: »Verwöhnen Sie das Kind nicht zu sehr, gnädige Frau.«
Aber verwöhnt war ich nicht. Ich übernahm, wenn ich nicht lernen musste, schon eine ganze Reihe von Aufgaben unter Aufsicht meiner Mutter. Teller abtrocknen, Kupferpfannen polieren, Kräuter zupfen, Beeren verlesen und derartige Handreichungen beherrschte ich schon selbstständig. Besonders gerne aber bereitete ich den Zucker für die Süßspeisen vor. Dazu bearbeitete zuerst meine Mutter den Zuckerhut, ein festes, weißes Gebilde von fast einer Elle Höhe, mit einem besonders dafür vorgesehenen Werkzeug – einer runden Zange, um ihn festzuhalten, und einer Hacke, um Stücke daraus zu brechen. Diese Brocken zerkleinerte ich dann weiter mit einem Zuckerhämmerchen zu winzigen Stücken. Brauchten wir Puderzucker, kamen Mörser und Pistill zum Einsatz, dessen Handhabung ich nach anfänglichen Schwierigkeiten schließlich auch meisterte. Am Herd durfte ich, als ich groß genug war, um ungefährdet mit den Töpfen zu hantieren, ebenfalls mithelfen und lernte, Apfelmus, Puddings und den Frühstücksbrei sorgfältig zu rühren, damit sie nicht anbrannten, Pfannkuchen backen, Würste braten und Milchsuppe kochen.
Doch es blieb auch Zeit für kindliche Beschäftigungen. Im Sommer spielte ich weiter mit den anderen Kindern draußen auf dem Hof, im Herbst, wenn die Stürme über das Land pfiffen, und vor allem im Winter, wenn die frühe Dämmerung hereinbrach und der eisige Hauch aus dem weiten Osten die Natur erstarren ließ, suchte ich gerne die alte Nanny auf, um bei ihr am Feuer zu sitzen. Die Kinderfrau hatte schon Lady Henrietta großgezogen und war später zu ihrer engen Vertrauten geworden. Als sie den Grafen von Massow heiratete, hatte sie Nanny gebeten, sie zu begleiten und auch ihre Kinder zu
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