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Göttertrank

Göttertrank

Titel: Göttertrank Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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den nächsten Tagen, unter den Webstühlen herumzukriechen, um die Maschinenteile von dem beständig anfallenden Baumwollstaub, abgerissenen Fäden und Fasern zu reinigen und die Wellen, Zahnräder und Gestänge zu schmieren. Es war eine schmutzige, klebrige Beschäftigung, die ihn immer wieder zum Husten brachte. Doch er fand zu seiner Überraschung sogar Gefallen daran. Die Funktionsweise der Kraftübertragung belebte seine abgestumpfte Phantasie, und er stellte manche technischen Überlegungen an, ohne indessen mit jemandem darüber sprechen zu können. Die anderen Kinder, die für die Schmierarbeiten eingesetzt waren, interessierte es nicht, was sie da putzten und ölten. Der Vorarbeiter betrachtete sie als lästige Arbeitstiere, die gefälligst genauso zu funktionieren hatten wie die Webstühle. Die Maschinisten oder gar der leitende Ingenieur übersahen sie dagegen vollständig.
    Das Geld, das er für seine zusätzliche Arbeit bekam, behielt er für sich. Weder der Skipper noch seine Frau fragten je nach mehr, und nur Jenny sah ihn misstrauisch an, als er mit ein paar abgetretenen, aber noch halbwegs brauchbaren Stiefeln erschien.
    Alexander überlebte den Winter in London, wurde unbemerkt dreizehn und hätte, wenn man ihn das Zeichnen gelehrt hätte, inzwischen recht akkurat Kupplungen, Getriebe und einfache mechanische Steuerungen konstruieren können. Das Wesen der Maschinen war ihm vertraut geworden. Manchmal schlich er sich sogar in die Halle, in der die Dampfmaschine ihren Dienst tat, und betrachtete intensiv das gewaltige Schwungrad, das von dem Kolben angetrieben wurde. Dieses Rad leitete die Kraft der Maschine – sage und schreibe fünfunddreißig Pferdestärken – über komplizierte Zahnkränze und -räder an die Transmissionswellen in den Fabrikhallen weiter. Was Pferde zu leisten in der Lage waren, das hatte Alexander in den Ställen der Garnison gelernt, und er fragte sich, auf welche Weise ein so verhältnismäßig kleiner Apparat eine solche Arbeit verrichten konnte.
    Er war sich jedoch auch der Gefahren bewusst, die sich hinter der geballten Kraft der Maschinen verbargen. Es verging kaum eine Woche, in der nicht irgendein Unfall passierte. Er hatte mitbekommen, wie Finger zwischen Kupplungen abgequetscht, wie herumfliegende Garnrollen zu tödlichen Geschossen wurden, wie heißes Maschinenöl Kleider entflammte und wie eine lose Metallbuchse einem Arbeiter ins Auge flog.
    Er hatte Respekt vor der Technik und wurde achtsam.
    Darum bemerkte er auch die sich lösenden Metallklammern, die die Enden des Lederriemens miteinander verbanden, der den großen Jacquard-Webstuhl antrieb. Er wies einen Arbeiter darauf hin, aber der grunzte nur, er solle die Klappe halten. Doch Alexander ließ der Anblick keine Ruhe. Die Welle drehte sich mit großer Geschwindigkeit, dreihundert Umdrehungen pro Minute, hatte er einmal den Ingenieur sagen hören. Wenn das Band riss, würde es mit großer Wucht durch die Halle fliegen. Den Schaden, den es dabei bei Mensch und Material anrichten konnte, wagte er sich nicht vorzustellen. Er suchte in der Mittagspause den Vorarbeiter auf und wies ihn auf den gefährlichen Zustand hin.
    »Vorlauter Bengel! Willst du mir erklären, wie ich meine Arbeit zu tun habe?«, war die unwirsche Antwort, verbunden mit einer schallenden Ohrfeige.
    Alexander resignierte. Er konnte nichts weiter unternehmen, als dem Schicksal seinen Lauf zu lassen. Doch er blieb weiter achtsam. Nur darum konnte er am späten Nachmittag, als sich die Klammern mehr und mehr lösten, gerade noch im rechten Augenblick aus dem Gefahrenbereich springen. Dabei riss er eines der kleinen Mädchen mit zu Boden und stieß eine junge Frau, die gerade die Spulen wechselte, zur Seite. Dann kam es zu einem lauten Knall, der sogar das Maschinengetöse übertönte, und der breite Antriebsriemen peitschte wild durch die Luft. Er traf den Vorarbeiter, riss ihm die linke Hand vom Arm, schlug einem Arbeiter ins Gesicht, der blutüberströmt zu Boden ging, und flog dann in einen Webstuhl, der sich kreischend festfuhr.
    Der Vorarbeiter starrte noch fassungslos auf seinen Armstumpf und brach dann zusammen.
    Das Mädchen, das Alexander zu Boden geworfen hatte, heulte und trat nach ihm, die junge Frau klammerte sich mit Entsetzen an seinem Hosenbein fest.
    Irgendjemand brüllte einen Befehl, und die Maschinen wurden langsamer, blieben schließlich stehen. Die beiden großen Antriebswellen ruhten, und in der unerwarteten Stille hörte

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