Göttertrank
Fassung, Würde und Anstand getragen und in ihrem Leid Läuterung gefunden. Keine ärztliche Hilfe konnte das schreckliche Schicksal von ihr wenden...«
»Idiot«, schimpfte Jan Martin den Pastor innerlich. Hätte Dorothea sich an die Anweisungen ihres Arztes, Lothars und seine Mahnungen gehalten, sie könnte noch am Leben sein. Diese Frau hatte sich buchstäblich zu Tode gefressen. Und dieser geisttötende Salbaderer gab der Medizin die Schuld. Unbelehrbar, nur auf ihre Bequemlichkeit bedacht, jedem Genuss nachhechelnd – so hatte er Dorothea vom ersten Moment seiner Bekanntschaft mit ihr eingeschätzt. Schon damals in Berlin war sie gierig über Kuchen, Kakao und Kavaliere hergefallen. Sie hatte von allem nie genug bekommen, und wie immer machte die Dosis das Gift. Das Zuviel an männlicher Aufmerksamkeit, das ihr durch ihren Gatten und seine Kumpane zuteilgeworden war, hatte sie zur Mörderin werden lassen, eine Unmenge an gehaltvollen Nahrungsmitteln hatte sie fett und kurzatmig gemacht, und ihr unstillbarer Hunger nach Süßigkeiten hatte ihre Organe zersetzt und sie schließlich getötet. Sie war das typische Beispiel für einen maßlosen Menschen. Er, der Mediziner, dem alles Leben wichtig war, verspürte kein Mitleid mit Dorothea. Nur Verachtung.
»Ihre Seele ruht nun in den Händen Gottes, und was sie in ihrem Erdenwandel in ihrer Schwäche gefehlt hat, das tilge seine verzeihende Barmherzigkeit und Liebe.«
Gérôme Médoc drückte sich an der Kirchhofmauer hinter einen Baum, um nicht gesehen zu werden. Vor drei Tagen hatte er in einer Gazette die kleine Notiz gelesen, dass die Edle Dorothea von Finckenstein das Zeitliche gesegnet hatte. Seine Situation war derzeit nicht eben blendend. Er hatte nach dem Rauswurf durch die Witwe Bevering Probleme gehabt, ohne Referenzen eine vernünftige Stelle zu finden, und fristete jetzt sein Leben in einer heruntergekommenen Bäckerei in Remagen. Doch seine Kenntnis von Dottys Vorlieben erschien ihm einen gewissen Betrag wert. Wenn sie denn an der richtigen Stelle vorgebracht würden. Betrauern tat er die dicke, wollüstige Kuh nicht. Sie war ein kurzes, lohnendes Abenteuer gewesen, aber ihre Gier nach körperlicher Befriedigung hatte ihn schon bald angeödet. Ihr Bruder wäre jetzt sein Ansprechpartner gewesen, aber leider war Lothar de Haye aufgetaucht, ein Mann, der viel zu viel von ihm wusste – und die Bevering, der er ebenfalls lieber nicht mehr unter die Augen treten wollte.
Leise stahl er sich davon.
Der Pfarrer hub mit dem Gebet an: »Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er gestorben ist...«
Amara hatte zwar die Hände züchtig gefaltet, aber sie betete nicht. Nicht für Dorothea. Nicht für die Frau, die ihr mit ihrer Missgunst das Leben sauer gemacht und die sich schließlich bis zum Äußersten gegen sie gewandt hatte. Schon als Kind hatte Dotty sie mit Verachtung behandelt, damals als sie sie bei den Massows mit den Fingern in der Cremeschüssel erwischt hatte. Bastard hatte sie sie genannt, und später, in Nadinas Café, hatte sie sie wie eine Küchenschabe betrachtet, hatte versucht, sie vor Jan und Gilbert zu demütigen. Hier in Bonn hatte sie ihren Rufmord fortgesetzt. Nein, Dorothea war ihr keine Träne wert. Das Einzige, was sie vage verspürte, war das Bedauern, dass ihre Cousine ihr Leben von Neid, Hochmut und Dünkel hatte leiten lassen und dass sie an allen Wegkreuzungen, die sie vor die Wahl stellten, sich selbst zu retten, konsequent den bequemen Weg zum eigenen Untergang eingeschlagen hatte.
Mochte sie nun in Frieden ruhen und in Vergessenheit geraten.
»Staub bist du, und zum Staube kehrest du zurück, der Herr aber möge dich auferwecken am Tage des Gerichts.«
So schloss der Pfarrer seine Ansprache, und Melisande sprach ein stummes Gebet.
Ihr tat Dotty leid, die ihr missglücktes Leben an den schwülstigen Geschichten gemessen hatte, die sich in den zerlesenen und zerfledderten Heften einer Tante Laurenz abgespielt hatten. Melli war die Einzige, die diesem Geschreibsel Aufmerksamkeit geschenkt hatte, den anderen war dieses Schriftgut entgangen, als sie die Wohnung der Verstorbenen räumten.
Das Zuckerprinzesschen hatte der Wirklichkeit nie standhalten können. Und niemand hatte gemerkt, was sie so sehr vermisste, was sie gezwungen hatte, immer den falschen Weg einzuschlagen.
In Melisandes großem Herzen, das sie mit ihrer Mutter Nadina gemein hatte, fand auch dieses
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