Göttertrank
außerhalb der Stadt, doch an einer vielbefahrenen Chaussee, der Berliner Straße. Die schlichten Holzbänke und Tische unter den Weiden im Garten waren zusammengerückt; um draußen zu sitzen, war es zu kühl geworden. Doch auf der mit Bohlen belegten Terrasse saßen im Schutz von geflochtenen Paravents noch einige Gäste bei Kaffee und Kuchen und genossen den Blick über die sich hier zu einem flachen See verbreiternde Havel. Zwei Schwäne zogen ihre gemächlichen Runden vor dem gegenüberliegenden Ufer, hinter dem sich der Babelsberg mit seinem bunten Laubwald erhob. Es war ein beschaulicher Anblick.
Herr Masters führte mich am Ellenbogen gefasst durch die besetzten Tische in einen kleinen Schankraum, in dem eine hochgewachsene, kräftige Frau einen Samowar befüllte. Das Auffallendste an ihr war eine Masse roter Haare, die zu einer komplizierten Frisur aufgesteckt waren und einen strahlenden Kontrast zu dem grünen, volantbesetzten Kleid boten.
»Madame Galinowa, darf ich einen Augenblick um Ihre Aufmerksamkeit bitten?«
Die Angesprochene drehte sich um, und ein augenzwinkerndes Lächeln erhellte ihr Gesicht.
»Der Herr Masters aus Berlin. Was habe ich gehört? Vorletzte Woche es hat gegeben einen Skandal Unter den Linden? Man redet von einem Herrn Studiosus in äußerst unschicklicher Aufmachung. Er ist der wegen Erregung öffentlichen Ärgers genommen in Polizeigewahrsam.«
»Spricht man davon? Das ist mir neu«, meinte mein Begleiter mit unschuldigem Blick. »Ich weiß von nichts.«
»Nein, natürlich nicht. Ah, und wen bringen Sie hier zu mir?« Das Lächeln verschwand, als sie mein noch immer verquollenes Gesicht musterte. »Haben Sie das Mädchen in Schwierigkeiten gebracht, Herr Masters?«, fragte sie streng.
»Nein, Madame Galinowa. Aber in Schwierigkeiten ist sie, und eine Lösung für Ihr Problem könnte sie sein.«
»Ich habe kein Problem, junger Mann.«
»Doch, Sie haben Ihren Streuselkuchen.«
»Ha! Das ist Problem, was Babuschka hat. Was ist mit dem Kind?«
Ich hörte schweigend zu, wie Alexander meine Geschichte in kurzen, nüchternen Worten zusammenfasste. Die Änderung im Verhalten der Wirtin war erstaunlich. Er hatte kaum zu Ende gesprochen, da waren ihre Züge weich geworden. Sie breitete die Arme aus und zog mich ohne Umstände an ihren üppigen Busen. Ich versank in parfümierter, weicher Mütterlichkeit.
» Maja milaja! Maya sslatkaja! Maya kroschka!«, murmelte sie und streichelte meinen Rücken. »Du kommst zu uns. Du wohnst bei uns. Und wenn du magst, backst du Kuchen für uns. Ach, mein armes Kindchen. Mein trauriges Seelchen.«
Irgendetwas löste sich in mir. Eine harte Stelle weichte auf, und ein winziger Funken Hoffnung glomm in meinem müden Herzen auf. Ich hatte in meinem Leben Freundlichkeit kennengelernt, Verständnis und Zuneigung erfahren. Überwältigende Zärtlichkeit war aber nicht dabei gewesen. Das aber schenkte mir ohne Fragen, ohne Vorbehalte Madame Galinowa. Die quälende Bitterkeit wurde erträglicher, und meine Tränen bewirkten endlich Erlösung. Ich merkte kaum, wie Nadina Galinowa mich in ein Zimmerchen führte, mir die Schuhe auszog und mich in ein Bett steckte. Unter dem unablässigen russischen Gemurmel einer tiefen, rauen Stimme schlief ich endlich ein.
Der exotische Onkel
Als ich noch im Flügelkleide zur Mädchenschule ging, da war ich schon mit dreizehn Jahren ein ganz verliebtes Ding.
Volkslied
»Und unser Zuckertöpfchen wird sicher wieder zu seinem Rübenacker zurückfahren«, kicherte Isabella und fädelte einen rosa Seidenfaden in ihre Sticknadel. Die Elevinnen der Höheren Töchterschule von Magdeburg saßen an einem kühlen Märznachmittag zusammen im Salon des vornehmen Mädchenpensionats und schmiedeten Pläne für die freien Osterfeiertage.
Dotty wusste nicht, was sie mehr verabscheute – die Schule oder die Ferien. Zum Glück war es ihr letztes Jahr, das sie in dem Pensionat verbringen und in dem sie die beständigen Sticheleien ihrer Mitschülerinnen ertragen musste. Vor allem die unrühmlichen Versuche ihres Vaters, selbst Zucker herzustellen, waren für die jungen Damen eine nicht enden wollende Quelle von Anspielungen. Giftig gab sie zurück: »Wir haben vor Jahren Zucker für das Vaterland hergestellt, Isabella. Zu Zeiten, in denen dein Herr Papa sich seinen vaterländischen Pflichten durch eine als archäologische Expedition bezeichnete Lustreise entzog.«
»Immerhin hat er unserem König eine wertvolle Sammlung
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