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Göttertrank

Göttertrank

Titel: Göttertrank Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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Elend hatte er Gott sei Dank hinter sich gelassen.
     
    Doch dann verfolgte es ihn weiter. Noch am Abend sah er das junge, ängstlich besorgte, magere Gesicht des Mädchens vor sich und hörte die unterdrückten Schmerzenslaute ihrer Mutter. Fast dreiundzwanzig war Alexander inzwischen, und er hatte bisher aus eigener Kraft sein Leben gestaltet. Er verdiente ausgezeichnet, seine Arbeit wurde anerkannt, er hatte eine hübsche Wohnung am Tiergarten und konnte sich gediegene, modische Kleidung leisten. Einige Bekannte hatte er gefunden, doch keine engen Freunde, sondern er pflegte eher oberflächliche Beziehungen, wie die zu den Studenten der Humboldt-Universität. Hin und wieder genoss er auch die Gunst einer hübschen Näherin. Aber die Maschinen interessierten ihn mehr als diese Tändeleien. Nie hatte er das Bedürfnis verspürt, jemandem zu helfen, außer gelegentlich ein Almosen in die Hand eines Bettlers zu legen.
    Und dennoch erkundigte er sich zwei Tage später, als er wieder in der Zuckersiederei zu tun hatte, bei dem Vorarbeiter nach Mutter und Tochter.
    »Sind nicht wiedergekommen. Was soll man von diesem hochnäsigen Gesocks auch erwarten. Wir haben sie von der Lohnliste gestrichen.«
    »Wer sind sie?«
    »Mit Verlaub, Herr Masters, das braucht Sie nicht zu kümmern.«
    »Das ist wohl meine Angelegenheit. Also?«
    Der Mann zuckte mit den Schultern, und sein Tonfall blieb verächtlich, als er berichtete: »Birte und Amara Wolking. Die hat uns vor zwei Monaten ein Kunde aufgehalst. Haben vorher in einer Konditorei oder so was gearbeitet. Der Alte hat sich abgemacht, und die beiden brauchten Arbeit. Aber glauben Sie nicht, dass die dankbar wären. Kommen sich vor, als wären sie was Besseres. Das Mädchen hat eine renitente Art, und die Mutter ist eine unzuverlässige, faule Schlampe.«
    Das war eine erschöpfende Auskunft, die Alexander zum Schweigen brachte. Aber nicht, wie der Vorarbeiter dachte, weil damit die Angelegenheit für ihn erledigt war. Im Gegenteil.
    Vier Mal hatte Alexander in seinem Leben die Chance geboten bekommen, sich aus den tiefsten Niederungen hochzuarbeiten – Captain Finley, der ihn zu seinem Stallburschen gemacht hatte, Thornton Harvest, der ihn zum Maschinisten ausgebildet, Sir Nikolaus, der ihm den Besuch der Technikerschule ermöglicht hatte, und schließlich Egells, bei dem er jetzt eine hervorragende Stelle bekleidete. Es war so etwas wie ein Gewissensbiss, den er bei dem Gedanken daran verspürte und der in ihm den Entschluss reifen ließ, hier selbst einmal Schicksal zu spielen.
    Das Mädchen und seine Mutter sollten ihre Chance bekommen. Wenn sie klug waren, würden sie sich selbst weiterhelfen.
    Nach dem Gespräch mit dem Unternehmer machte er sich auf den Weg zu dem Mietshaus und klopfte an die Tür der Wohnung, in die er die beiden zwei Tage zuvor gebracht hatte.
    Er erschrak, als er das Mädchen vor sich sah. Ihr Gesicht war vom Weinen verquollen, ein graues Tuch hielt sie wie schützend um sich gewickelt, und ihre Haare hingen wirr aus einem halb gelösten Zopf. Schon bereute er seine Menschenfreundlichkeit. Sie schien tatsächlich eine Schlampe zu sein.
    »Sie, gnädiger Herr?«
    Die Stimme war klein und heiser, ihre Hände zitterten, mit denen sie das Tuch fester um sich zerrte.
    »Ich wollte mich erkundigen, wie es deiner Mutter geht.«
    »Sie starb. Gestern.« Und dann flossen die Tränen wieder über ihre Wangen. »Sie haben sie in ein Armengrab gebracht. Ich konnte doch nicht...«
    »Du hast kein Geld?«, unterbrach er das Schluchzen.
    Sie schüttelte den Kopf, versuchte Fassung zu gewinnen.
    »Darf ich hineinkommen?«
    »Bitte, gnädiger Herr.«
    Alexander setzte sich auf einen der beiden Holzstühle und sah sich um. Es war sauber und aufgeräumt in dem Zimmer, eine bunte Decke lag über dem Bett, und ein blauer Vorhang verbarg wohl die Waschgelegenheit. Aber in dem kleinen Kanonenofen, auf dem ein Wasserkessel stand, brannte kein Feuer, obwohl es schon empfindlich kühl und hier in dem Hinterzimmer auch erstaunlich feucht war.
    »Was ist passiert? Amara, nicht wahr? Du heißt Amara.«
    »Ja, gnädiger Herr. Entschuldigen Sie, ich kann Ihnen noch nicht einmal ein Glas Wasser anbieten.«
    »Erzähl.«
    Sie setzte sich auf den anderen Stuhl und wischte sich mit einem zerknüllten Taschentuch über die Augen.
    »Im Frühjahr starb mein Stiefvater. Ein Unfall. Wir hatten eine Konditorei, drüben in Berlin, und wir wollten ein Café aufmachen. Er hat dafür einen

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