Göttertrank
billigen Arbeitskräfte. Sie begründen es damit, die Arbeit in den Fabriken sei pädagogisch wertvoll.«
»Und bezahlen sie mit Branntwein. Wie soll ich den übermüdeten, betrunkenen Gören nach einem zwölfstündigen Tag an den Maschinen denn noch das Alphabet beibringen, kann mir das einer mal verraten?«
»Idealist!«
»Vielleicht. Aber wenn der preußische Staat eine gute Entscheidung getroffen hat, dann die der allgemeinen Schulpflicht. Nur breitflächig gebildete Menschen bringen einen Staat voran.«
»Darf ich dir die Absurdität vor Augen führen, dass du, wenn du dich für die Arbeiter starkmachst, sofort ins Visier der Staatspolizei gerätst?«
»Ich weiß, ich weiß. Aber ich sag dir, irgendwann platzt mir der Kragen. Und anderen auch.«
Alexander leerte mit einem großen Schluck seinen Bierkrug. Auch ihm war an diesem Tag schon der Kragen geplatzt, und auf die Heimkehr freute er sich nicht besonders. Aber es wurde spät, und die Arbeit in der Fabrik begann früh.
»Ich begleite dich noch ein Stück, Alexander.« Erik stand mit ihm auf und griff nach dem Wäschesack.
»Wenn du unbedingt willst.«
»Will ich.« Und als sie in der feuchten, nach Kohlebrand riechenden Nachtluft standen, forderte er ihn auf: »Erzähl mir, was passiert ist.«
»Der übliche Krach mit Paula. Julia ist ihr auf ihre empfindlichen Nerven gefallen. Mann, Erik, die Kleine ist noch keine drei Jahre alt. Da kann schon mal was umkippen.«
»Besorg ein vernünftiges Kindermädchen für sie.«
»Auch so ein Streitpunkt. Es gibt bereits eins, nämlich die Bonne, die schon die drei Töchter Reineckens großgezogen hat. Eine säuerliche Schwester Gnadenlos mit stets gezücktem Gebetbuch. Mein Vorschlag, sie in den verdienten Ruhestand zu schicken, hat bei meiner ehrenwerten Gattin wieder einmal die Vapeurs hervorgerufen.«
»Sie sollte sich nicht so eng schnüren.«
»Werd’s ihr mit freundlichen Grüßen von dir ausrichten.«
Eine Hand schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Tut mir leid, ich habe keinen besseren Vorschlag anzubieten. Es ist eine verteufelte Situation, in die du geraten bist.«
»Ist schon in Ordnung, Erik. Zumindest habe ich durch dich ein brauchbares Ventil gefunden, durch das der Überdruck manchmal entweichen kann.«
Erik schnaubte. »Typisch Maschinist!«
Das düstere Haus von Reineckens tauchte am Ende der Straße auf, und sie verabschiedeten sich voneinander.
Ins Wohnzimmer warf Alexander keinen Blick, um nicht gezwungen zu sein, mit seinem Schwiegervater zu sprechen, Paula hatte sich schon zurückgezogen, und er setzte sich in sein Schlafzimmer und sortierte die Briefe, die unten auf der Konsole für ihn bereitgelegen hatten. Er stand in Korrespondenz mit einigen anderen Ingenieuren, auch englischen, mit denen er Erfahrungen austauschte. Doch die Schreiben wollte er am nächsten Tag sorgfältig lesen. Den Umschlag aus Berlin jedoch machte er sofort auf. Diese Briefe waren Lichtblicke in seinem unbehaglichen Leben, und er freute sich jedes Mal darauf, Nachricht von dem seltsamen jungen Mädchen zu erhalten, das er vor nun vier Jahren aus der Zuckersiederei geholt hatte. Augenscheinlich hatte sie sich, nachdem die Trauer um ihre Eltern verklungen war, zu einer erfrischend natürlichen Beobachterin entwickelt. Es hatte ihm um Madame Galinowa willen leidgetan, dass das Ausflugslokal vor anderthalb Jahren in die Luft geflogen war, aber die Russin hatte vorsorglich gehandelt und schon frühzeitig bei der »Berlinischen Feuerversicherung« eingezahlt. Die Gewinne aus der Havelwirtschaft und die Zahlungen der Versicherung hatten es ihr ermöglicht, in Berlin in der Behrenstraße ein Café zu eröffnen. In den beiden ersten Briefen hatte Amara von Anfangsschwierigkeiten berichtet. Zum einen gab es Konkurrenz, die man beachten musste, zum anderen wollte ein Café in der Stadt anders geführt sein als ein Ausflugslokal. Das Publikum, das sie anziehen wollten, verlangte Höflichkeit und gepflegtes Ambiente. Alexander staunte über Amara, die diese Problematik erkannt und offensichtlich Madame Galinowa entsprechend beraten hatte. Woher hatte ein Bäckermädchen solche Kenntnisse, fragte er sich, als er ihre Beschreibung der Einrichtung gelesen hatte. Sonnengelb getünchte Wände, weiße Stühle und Tischdecken, Blumensträuße und gelbe Lampenschirme. Es hörte sich durchaus geschmackvoll an. Nur die Gäste kamen spärlich. Sie machten ihren Gewinn überwiegend mit ihren Konditorwaren, mit denen
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