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Göttertrank

Göttertrank

Titel: Göttertrank Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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allen Farben aufleuchten. Er trat zur Kommode, nahm den Stopfen und setzte sich neben seine Tochter auf das Bett. Dann hielt er das Kristall so, dass sich das Licht darin brach, und freute sich darüber, wie begeistert Julia das Glitzern in den Prismen betrachtete.
    »Die Wahrheit, Julia, ist ein wundervolles Ding. Sie ist leuchtend und rein und hat unzählige Facetten. Genau wie dieses hübsche Glas. Wahrheit ist überall. Wahrheit lässt sich nicht in ein Buch pressen. Auch nicht in die Bibel. Verstehst du das?«
    »Ja, Papa.« Vorsichtig langte Julia nach dem Stopfen, und er gab ihn ihr in die Hand. »Aber was ist denn wirklich wahr?«
    »Wirklich wahr ist das Kissen, auf dem du sitzt, der Baum vor dem Fenster, der Nachttopf unter meinem Bett und die Sterne am Himmel. Alles, Julia, was du sehen und anfassen kannst, ist wirklich. Alles das ist wahr. Das ist wirklich.«
    Er sah, wie es in ihrem Gesichtchen arbeitete. Sie war ein kluges Kind, und er wollte unbedingt ihre Gedanken von dem Gift befreien, das Schwester Gnadenlos ihr eingeträufelt hatte. Wenn nötig auf Kosten jeglichen christlichen Glaubens.
    »Aber warum sagt das Fräulein denn, dass der liebe Gott die Menschen in den Himmel holt?«
    Alexander sah sie an, und wie von Ferne hörte er eine tiefe Stimme sagen: »Wenn du die Wahrheit suchst, mein Junge, dann schau in den Sternenhimmel. Dort findest du die Antworten.« Er konnte nicht genau sagen, woher er es wusste, aber es waren die Worte seines Vaters, und eine schmerzliche Sehnsucht nach seiner Liebe und Güte packte ihn.
    »Komm mal her«, sagte er daher zu seiner Tochter. Widerstandslos ließ sie sich in seinen Arm nehmen und zum Fenster tragen. Sie legte sogar ihre Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn, als er die Läden weit öffnete und mit ihr in die kalte, sternklare Winternacht hinausschaute.
    »Schau mal, da sind die Sterne.«
    »Ja. Sie sind schön. Die sind auch wahr?«
    »Die sind ganz wahr. Ganz wirklich. Sag mal, Mäuschen, wie weit kannst du schon zählen?«
    Julia hob eine Hand und spreizte die Finger. »Eins, zwei, drei, vier, fünf. Und an der anderen Hand sind auch so viele.«
    »Hervorragend. Kannst du die Sterne zählen?«
    Sie schaute zum Firmament und schüttelte dann verlegen den Kopf.
    »Nein, Papa. Das sind mehr, als ich Finger habe.«
    »Ganz richtig. Ich kann sie auch nicht zählen, obwohl ich viel mehr Zahlen kenne als du. Aber eines Tages werden wir es können, weil wir Geräte dafür erfinden werden.«
    »Ist da oben der liebe Gott?«
    »Manche Menschen glauben das.«
    Es mochte ein bisschen zu schwierig für sie sein, und Alexander überlegte angestrengt, wie er ihr den Unterschied zwischen Wissen und Glauben erklären sollte. Aber dann überraschte Julia ihn gründlich.
    »Aber die Sterne sind wirklich. Ich kann sie sehen. Den lieben Gott kann ich nicht sehen.«
    »Du bist sehr, sehr klug, Julia. Ich bin stolz auf dich. Aber jetzt machen wir erst einmal das Fenster wieder zu, damit wir keinen Schnupfen bekommen.«
    Er setzte sie ab und schloss die Läden. Als er sich umwandte, war sie wieder in sein Bett gekrabbelt und sah ihn aufmerksam an.
    »Wir überlegen noch etwas gemeinsam, Julia.«
    »Ja, Papa. Bitte.«
    »Gut. Julia, wie groß bist du? Wie schwer bist du?«
    »Mhm.« Sie nagte verlegen an ihrem Daumen. »Weiß nicht.«
    »Eine ganz hervorragende Antwort. Wir werden die Frage morgen früh gleich klären. Mit einer Waage und einem Maßband. Denn dann wissen wir es. Wir können dich nämlich messen und wiegen. Und was bedeutet das?«
    »Dass ich wahr bin?« Julia kicherte ein bisschen und nahm den Kristallstopfen wieder auf. »Und du auch und Mama und Großmutter und alle.«
    »Meine Güte, was habe ich für eine schlaue Tochter. Und jetzt verrate mir, wo du warst, bevor du meine schlaue Tochter wurdest.«
    Wieder überlegte sie lange und gründlich, und gespannt wartete Alexander auf die Antwort.
    »Weiß nicht. Wo war ich?«
    »Ich weiß es auch nicht. Da siehst du mal, wie dumm ich bin.«
    »Aber irgendwo... mhm.«
    »Pass auf – was ich dir erklären möchte, ist Folgendes: Weil wir Menschen auf manche Fragen keine wahren Antworten haben, haben wir uns angewöhnt, etwas zu glauben. Etwas für wahr zu halten, was wir nicht wirklich wissen. Wir könnten zum Beispiel glauben, dass es hunderttausend Sterne gibt. Das ist viel einfacher, als sie zu zählen.«
    Julia lutschte mit Hingabe an ihrem Daumen, was ihr offensichtlich beim Denken half. Dann platzte

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