Göttertrank
Pflanze, Tier und Baum, im Menschen nicht.
Franz Grillparzer
Alexander ging zornig schweigend zur Anrichte, nahm die geschliffene Cognac-Karaffe und ein Glas mit und verließ den Raum, ohne seinem Schwiegervater und dessen Buchhalter eine gute Nacht zu wünschen. Wieder einmal waren ihre Auseinandersetzungen fruchtlos und zermürbend gewesen. Reinecke widersetzte sich vehement allen Neuerungen – den technischen, weil er sie nicht verstand, den sozialen, weil er sie fürchtete. Weder war er bereit, eine neue Ventiltechnik in seine Maschinen einzubauen, noch eine Krankenversicherung für seine Arbeiter abzuschließen, eine Maßnahme, die andere Unternehmer schon längst eingeführt hatten. Alexanders Argument, gerade die Maschinenbauer mit ihrem Spezialwissen müsse man durch solche Vorsorgemaßnahmen ermuntern, bei der Firma zu bleiben, wischte der Buchhalter mit dem Hinweis auf unnötige Kosten rigoros vom Tisch und wurde dabei vom Unternehmer mit beifälligem Nicken unterstützt.
Mit der Karaffe in der Hand stieg Alexander die Treppen hoch und durchquerte den langen düsteren Gang zu seinem Schlafzimmer. Dabei schoss ihm der bittere Gedanke durch den Kopf, dass auch bei ihm, wie bei den Arbeitern, wohl nur die Sauferei das Leben in Elberfeld erträglich machte. Als er am Zimmer seiner kleinen Tochter vorbeikam, hörte er herzzerreißendes Weinen. Das erstaunte ihn, denn die Kinderfrau schlief ebenfalls in dem Raum und sollte sich um das Mädchen kümmern. Er stellte die Karaffe in seinem Zimmer auf die Kommode und ging zurück. Leise öffnete er die Tür und spähte in das nur von einem flackernden Nachtlicht erhellte Zimmer.
Julia schluchzte jämmerlich in ihrem Bett, die Kinderfrau lag mit offenem Mund laut schnarchend in dem ihren. Ein kurzer Blick auf den Nachttisch enthüllte ihm, warum. Neben der Bibel stand ein halb leeres, braunes Medizinfläschchen. Er nahm es an sich, dann wandte er sich an das weinende Kind, das sich jetzt mit großen Augen, den Bettzipfel an sich gepresst, an die Wand drückte.
»Julia, was hast du? Tut dir etwas weh?«
Die Kleine schüttelte stumm den Kopf.
Er setzte sich auf die Bettkante und wollte ihr über den Kopf streicheln, aber sie zuckte ängstlich zurück.
»Ich tu dir doch nichts, Julia. Ich will dich doch nur trösten.«
»Papa?«
Leise und heiser hörte sich das Stimmchen an. Alexander ergriff ein tiefes Mitleid. Auch hier war etwas völlig aus dem Ruder gelaufen.
»Komm her, Mäuschen, wir gehen in mein Zimmer.«
Er wickelte etwas ungeschickt seine vierjährige Tochter in die Decke und trug sie nach nebenan. Etwas zutraulicher kuschelte sich die Kleine in die Kissen seines Bettes, während er die Lampe anzündete.
»So, und jetzt erzählst du mir deinen Kummer.«
»Ja, Papa. Es ist... Ich hab solche Angst.«
»Wovor, Julia? Wer oder was hat dir Angst gemacht?«
»Ich hab Angst vor der Hölle.«
Ratlos schaute Alexander in das verweinte Gesichtchen.
»Warum, um alles in der Welt, hast du Angst vor der Hölle? Die brauchst du ganz bestimmt nicht zu haben.«
»Doch, Papa. Wegen dem schlechten Blut.«
Das Mädchen plapperte nach, was es gehört hatte, und das ließ die Empörung in Alexander wie hochgespannten Heißdampf aufsteigen. Mühsam drängte er seinen Zorn zurück und fragte sanft nach: »Willst du mir nicht erklären, was du damit meinst?«
»Das Fräulein hat’s gesagt. Sie hat gesagt, der liebe Gott lässt nur ein ganz paar Menschen in den Himmel. Und ich gehöre nicht dazu. Weil in mir doch schlechtes Blut fließt. Und deswegen komme ich in die Hölle, wo man mich brennen wird und wo die Teufel sind. Und ich hab mich schon mal verbrannt. Das tut so weh!«
»Das hat dir Schwester Gnadenlos erzählt?« Mit gewaltiger Anstrengung unterdrückte Alexander einen derben Fluch.
»Wer ist Schwester Gnadenlos?«
»Das Fräulein. Sie hat vollkommen unrecht, Julia.«
»Nein, Papa. Sie sagt, das steht in der Bibel. Weil das, was in der Bibel steht, hat der liebe Gott selber gesagt. Deshalb ist das die einzige Wahrheit. Das hat sie gesagt.«
Alexander stand auf und ging, um seine Gedanken von akuten Mordgelüsten zu befreien, einige Schritte auf und ab und überlegte, wie er einem verängstigten, kleinen Mädchen mit seinem wachen Geist die Teufel austreiben konnte. Die Erleuchtung kam ihm, als er sich ein Glas Cognac einschenken wollte. Wie von ungefähr fiel ein Lichtstrahl auf die Karaffe und ließ den geschliffenen Kristallstöpsel in
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