Göttertrank
schweigend verlassen. Auf den Stufen vor dem Dienstboteneingang fand sie das schluchzende Mädchen. Ihre mütterliche Art ließ sie fragen, was passiert war, und schnell hatte sie herausgefunden, wo die Ursache des Zwistes lag. Die Herrin war die geborene Nörglerin, eine aus kleinen Verhältnissen aufgestiegene Vornehme, die sich ihren Wert dadurch beweisen musste, dass sie andere drangsalierte. Ella aber, aus bescheidenen Verhältnissen, war schon früh wegen ihres Jähzorns auffällig geworden und hatte mehrere Jahre in der »Erziehungsanstalt für schwererziehbare Mädchen« verbracht. Über die Verhältnisse in derartigen Instituten brauchte sie nicht viele Worte zu verlieren. Nadina sagte einfach: »Du kannst bei mir arbeiten. Wenn du Teekanne kaputt machst, fliegst du raus. Wenn du gut arbeitest, kriegst du gutes Zeugnis, und alles andere ist vergessen.«
Ella war in unserem kameradschaftlichen Klima aufgeblüht. Sie hielt die Wohnung über dem Café in Ordnung, kümmerte sich um unsere Kleider und übernahm auch schon mal Zofendienste. Denn inzwischen beugten Melli und ich uns doch dem Diktat der Mode und trugen, wenn wir servierten, hübsche Kleider unter den gestärkten Schürzen.
Gerade jetzt kam Ella mit einem Stapel frisch gebügelter Servietten in die Küche und legte sie in den Wäscheschrank. Melisande stellte ein klapperndes Tablett ab und grinste ihr zu: »Dein Galan drückt sich im Hof herum, Ella!«
»Ist es schon fünf Uhr?«
»Nein, erst halb. Aber er scheint eine unbezwingliche Sehnsucht nach dir zu haben.«
Ella kicherte. Sie war nicht gerade eine Schönheit, sondern eher vom derben Typ. Ein wenig untersetzt, mit roten Wangen und strohigem blondem Haar, das sie mit irgendwelchen geheimnisvollen Mittelchen bearbeitete. Aber dem Herrn Referendar Kantholz gefiel sie offensichtlich.
»Dann sehe ich mal nach, ob wir noch ein paar Schokoladenkekse für dein Naschmäulchen haben«, bot ich ihr an. Die seltsamen Gelüste von Karl August Kantholz hatten uns schon viel Stoff zu Spötterei gegeben. Ella berichtete nämlich freimütig über seine ausgefallenen Marotten. Sein Verlangen nach Süßem war die eine. Zum andern pflegte er eine große Heimlichtuerei um seine Liebschaft, die er streng vor seiner Mutter verborgen hielt, weshalb er sich nicht in das Café wagte, sondern immer den Weg über den Hinterhof wählte. Doch besonders Ort und Umstände ihrer Schäferstündchen erschienen Melli und mir ausgesucht skurril. Da Karl August noch mit sechsundzwanzig bei seiner Mama wohnte, brauchte er eine ungestörte Unterkunft, wo er sich mit Ella treffen konnte. Aus einem unerfindlichen Grund hatte er Zugang zu einem Vergnügungsetablissement in der Tiergartenstraße. Dort, in dem Kostümfundus des kleinen Theaters, hielten sie ihre Zusammenkünfte ab, wobei sich Karl August zu unserer immerwährenden Heiterkeit angeblich in martialische Uniformstücke hüllte, um seinen männlichen Trieben die rechte Anregung zu verschaffen. Ohne Tressen und Epauletten schien da nichts zu gehen.
»Wenn Sie noch ein Stückchen Kuchen oder ein paar Kekse hätten, Fräulein Amara, dann tät ich sie gerne mitnehmen. Wir treffen uns nämlich heute das letzte Mal.«
»Oje. Arme Ella!«
»Och, das macht mir nix. Er ist ein komischer Kerl. Aber eine wie ich muss nehmen, was sie kriegt.«
Ich suchte Kekse aus den verschiedenen Dosen und wickelte sie in ein sauberes Handtuch. »Verlässt er Berlin, der werte Herr Referendar?«
»Ja, er geht nach dem Bergischen. Dort hat er einen höheren Posten in der Verwaltung angeboten bekommen.«
»Allein? Ganz ohne Mama?«, spöttelte Melisande.
»Nein, nein. Die geht mit ihm. Hat er gesagt. Wer soll ihm denn sonst den Haushalt führen.«
»Na, du zum Beispiel.«
»Nee, lieber nicht.«
Ella zog glücklich mit ihren Liebesgaben ab, und ich bedauerte: »Wird mir direkt fehlen, der kleine Soldat.«
»Wir können drüber lachen, Amara«, meinte Melli ungewöhnlich ernst. »Aber glaub mir, Männer, die eine solche Macke haben, können gefährlich werden. Der verkleidet sich nicht aus Spaß, der muss doch seine Unfähigkeit unter einer Uniform verstecken. Hoffentlich kriegt der nie im Leben die Gelegenheit, offiziell eine zu tragen.«
»Dann kann Ella froh sein, ihn loszuwerden. Soll er doch seine Schrullen woanders ausleben.«
Das tat Karl August dann auch.
Bittere und andere Wahrheiten
Der Mensch fiel von Gott ab, die Sterne nicht,
Drum ist in Sternen Wahrheit, im Gestein,
In
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