Göttin der Wüste
schmerzhaft. Der Frost biß mit tausend kleinen Mäulern in ihr Fleisch. Innerhalb weniger Sekunden schien sich ihr Blut ins Innere ihres Körpers zurückzuziehen, als ergriffe es aus eigener Kraft die Flucht. Bald schon war ihre Haut leichenhaft weiß. Im vagen Schein der Sterne blickte sie an sich herab und fand, daß sie aussah wie ein Gespenst.
»Qabbo!« rief sie die Düne hinab, doch der kleine Mann war im Dunkeln verschwunden.
»Hier bin ich.« Seine Stimme ertönte aus den Schatten, die in der Senke wie ein See aus Teer zusammengeflossen waren. »Komm schon, komm mit!«
Sie überkreuzte die Arme eng vor dem Oberkörper und spürte, daß ihre Brustwarzen vor Kälte steif geworden waren wie geronnene Blutstropfen. Ohne zurückzuschauen machte Cendrine sich auf den Weg, folgte den Fußstapfen Qabbos im Sand. Der Boden hatte die Hitze des Tages gespeichert und war nur deshalb nicht mit Rauhreif überzogen. Ihre Fußsohlen schmerzten trotzdem schon nach wenigen Schritten.
»Qabbo, warte auf mich!« rief sie ins Dunkel und lief eilig den Hang hinab.
Der San gab keine Antwort.
»Qabbo?«
Die Schwärze inmitten des Dünentals wurde auch beim Näherkommen nicht durchscheinender, sie hatte den Eingeborenen verschluckt wie ein bodenloses Loch in der Wüste.
Noch einmal rief sie den Namen des San, dann blieb sie angstvoll stehen. Was war es, das Qabbo ihr zeigen wollte? Mußte sie ihm dafür tatsächlich in dieses Nest aus Schatten folgen, das ihr mehr und mehr wie ein schwarzer Kokon erschien?
Sie drehte sich um und blickte zurück zum Dünenkamm – sah über seiner Kuppe nichts als die flimmernde Saat der Gestirne. Unsicher machte sie einen Schritt, dann noch einen, bis sie immer schneller in ihren eigenen Spuren den Hang wieder hinaufstieg. Oben angekommen, sah sie vor sich nichts als die unendliche Leere der Wüste. Kein Haus, kein Fenster. Sie war allein. Nackt, frierend und völlig verlassen.
»Qabbo!« schrie sie laut auf. »Qabbo, warum tust du das?«
Weit, weit weg ertönte eine Antwort, so leise, daß es ebensogut der Wind sein mochte, in dessen Seufzen sie die Worte hinein deutete. »Warum bist du umgekehrt? Du hättest mir folgen sollen …«
Qabbos Stimme verhallte, so wie die der Frau verklungen war.
Ich will aufwachen, dachte Cendrine. Aufwachen!
Doch ihr Hochgefühl von vorhin, als sie geglaubt hatte, endlich alles unter Kontrolle zu haben, war gewichen. Jetzt zeigte sich, daß sie längst noch nicht fähig war, die Ebene des Traums nach eigenem Gutdünken zu verlassen.
Schon gar nicht, wenn es jemand anders in der Wüste gab, der das Tausendfache ihrer Macht besaß.
Eine Gestalt in weißen Gewändern wuchs lautlos hinter der nächsten Düne empor. Cendrine kam es vor, als nähme die Temperatur noch einmal um mehrere Grad ab.
Die weißen Stoffbahnen wirbelten auf, schossen wie Pfeilspitzen zum Nachthimmel empor, schlängelten und wellten sich, sanken zurück zum Boden und wurden erneut ergriffen. Der Wind, der Cendrines Leib streifte, war nicht stark genug, um solche Wirbel zu erzeugen. Vielmehr schien es, als besäßen die Gewänder ein Eigenleben, ähnlich den anmutigen Bewegungen von Unterwasserpflanzen, die sich in einer unsichtbaren Strömung wiegen.
Die Gestalt stand da und starrte zu ihr herüber. Zwischen den wallenden Tuchbahnen lag das Gesicht des Wanderers im Schatten, ein dunkles Herz inmitten des weißen Stofftreibens.
Folge mir.
Cendrine hatte schon darauf gewartet. Es war der gleiche Befehl wie damals. Und am Ende des Weges lag zweifellos dasselbe Ziel.
Der Mann in den weißen Gewändern ging nicht in die Richtung, in die Qabbo sie hatte führen wollen. Cendrine spürte, wie ihr bereits der bloße Gedanke an Widerstand entrissen wurde. Qabbo hatte ihr eine Wahl gelassen – die einsame Gestalt auf der Düne tat das nicht.
Folge mir.
Und Cendrine folgte, zitternd vor Kälte und Ungewißheit. Sie sah, daß sich zu ihrer Rechten über dem Horizont ein schwarzer Abgrund im Nachthimmel aufgetan und die Sterne verschlungen hatte. Der Wind kam aus derselben Richtung, und mit ihm ein Fanal von Lauten, das Kreischen unfaßbarer Luftmassen, die selbst den Sand zwischen sich zermalmten.
Cendrine wandte den Kopf, um hinab ins nächste Dünental zu blicken, dorthin, wo der Wanderer verschwunden war.
Folge mir.
Eine schmale schwarze Hand packte sie von hinten, riß sie abrupt herum.
Qabbo war da und war es doch nicht. Sein Leib war durchscheinend, sein Gesicht schmerzverzerrt.
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