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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Auch die Klippe war verschwunden. Das Haus – falls es überhaupt noch existierte und nicht nur dieses Zimmer mit ihr in die Sphären der Vision übergewechselt war – stand einsam auf einem Dünenkamm.
    Cendrine! Ein letztes Mal ertönte die Stimme, dann verstummte sie.
    Draußen, unterhalb des Fensters, regte sich etwas. Eine Gestalt erhob sich, ein schmaler Umriß vor den Sternen und der Wüste. Cendrine schrak zurück, mehr noch, als sie erkannte, um wen es sich handelte. Obwohl sie ihn nicht wirklich fürchtete, machte es ihr angst, gerade ihn hier zu sehen. Erneut begann sie Zusammenhänge zu erahnen, von denen sie lieber nichts wissen wollte.
    Qabbo lächelte und streckte eine Hand nach ihr aus. »Komm raus«, forderte er sie mit sanfter Stimme auf. »Niemand will dir etwas tun. Komm raus zu mir.«
    »Warum bist du hier?« fragte sie und wunderte sich, wie fern und hallend ihre eigene Stimme klang, so als spräche sie nicht hier, sondern an einem anderen, weit entfernten Ort.
    »Komm raus«, sagte Qabbo erneut. »Komm mit mir.«
    Cendrine wollte zur Zimmertür gehen, aber der kleine San schüttelte abrupt den Kopf. »Nein, hierher. Durchs Fenster.«
    Sie zögerte noch einen Augenblick, dann ging sie zurück zum Fenster und legte beide Hände auf den Rahmen. Ganz kurz durchzuckte sie so etwas wie Erstaunen: Wenn sie wollte, konnte sie also eigene Entscheidungen treffen. Anders als in ihren früheren Visionen, in denen sie mehr oder weniger von den äußeren Umständen geführt worden war, war sie jetzt stark genug, sich zur Wehr zu setzen. Sie spürte genau, daß sie einfach zurück zum Bett gehen und weiterschlafen konnte. Was sie tat, tat sie aus freiem Willen.
    Bedeutete das, daß sie allmählich dazulernte? Gewann sie mehr Kontrolle über ihre Träume? Und nicht nur über die Träume, sondern auch über die anderen Aspekte ihrer – wie Adrian es immer wieder genannt hatte – Begabung? Würde sie bald an dem Punkt sein, selbst entscheiden zu können, wann sie in die andere Ebene, die Welt der Schamanen, überwechseln wollte?
    Und war sie eigentlich noch bei Trost, über so etwas überhaupt nachzudenken? Ernsthaft darüber nachzudenken?
    Doch selbst die Tatsache, daß sie so frei und ungezwungen denken konnte, war neu und unverhofft. Etwas geschah mit ihr. Eine Wandlung war im Gange, die sich nicht nur in ihrem Selbstbewußtsein und Verhalten niederschlug. Auch in ihrem Inneren geschah etwas, in jenem Teil ihrer selbst, der niemals nach außen dringen würde. Wenn sie jetzt dieses Zimmer verließ, dort hinaus ging, durchs Fenster in die Wüste, machte sie dann zugleich den nächsten Schritt hin zum besseren Verständnis dessen, was in ihr vorging? Sie hoffte es.
    Doch dann, als sie gerade ein Knie aufs Fensterbrett zog, kam ihr noch ein Gedanke: Was, wenn alles nur ein Traum war? Nicht nur dieser Raum und die Wüste dort draußen, sondern auch der ganze Rest? Elias, das Haus auf den Klippen, ihr Gespräch mit dem Professor – alles nur Teile einer gigantischen Vision, die jemand oder etwas ihr eingegeben hatte, die vielleicht sogar sie selbst sich vorgaukelte?
    Hörte die Wirklichkeit tatsächlich dort auf, wo Cendrine es annahm, also gestern abend, beim Einschlafen in diesem Zimmer? Oder hatte sie die Grenze zum Irrealen schon viel früher überschritten, vor ihrer Abreise aus Windhuk, oder – wer weiß? – schon lange, lange davor? Hatte sie den Verstand verloren, ohne es selbst zu bemerken?
    »Wenn du tust, was ich sage, bleibt dein Verstand unangetastet«, sagte Qabbo, der sich einige Schritte vom Fenster entfernt hatte.
    Cendrine starrte ihn an. »Du liest meine Gedanken.«
    »Wundert dich das? Würdest du dir nur Mühe geben, könntest du auch die meinen lesen.« Das gleiche hatte Adrian gesagt. »Und nicht nur meine Gedanken«, fuhr der San fort, »sondern die aller Menschen und Dinge auf dieser und in jeder anderen Welt.«
    »Die Gedanken von Dingen?« wiederholte sie irritiert.
    Qabbo gab keine Antwort, winkte ihr nur zu und drehte sich um. Langsam stieg er den Dünenhang hinab und entfernte sich. Cendrine würde sich beeilen müssen, wenn sie ihn nicht aus dem Blick verlieren wollte.
    Sie gab sich einen letzten Ruck, dann kletterte sie durch das Fenster ins Freie. Sie konnte den Wind auf ihrer bloßen Haut spüren, fühlte das Streicheln der Sandkörner, die um ihre nackten Beine wehten. Die Kälte der Nachtluft war im ersten Moment nur unangenehm, dann betäubend und schließlich

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