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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Angaben richtig waren – die rätselhaften Steine mitgebracht und in das bereits fertige Haus einfügen lassen.
    Wohin aber hatte ihn diese letzte Expedition geführt? Noch einmal zurück nach Henoch, obwohl er doch in seinen Aufzeichnungen behauptet hatte, daß seine Arbeit dort beendet war? Oder gab es eine zweite Ausgrabungsstätte in der Kalahari, eine, von der bislang niemand wußte?
    Der Gedanke bereitete ihr Bauchschmerzen, und sie spürte, daß ihre Hände bebten. Geschwind verhakte sie die Finger unter der Tischplatte im Schoß, damit die anderen ihr Zittern nicht bemerkten.
    Ein zweiter Grabungsort in der Wüste! Wahrscheinlich bedeutete das auch einen weiteren Fund. Stammten die Steine vielleicht gar nicht aus Henoch, sondern von dieser zweiten Stätte?
    Und was für eine Entdeckung mochte das sein, die Selkirk dazu bewegt hatte, den – wie er selbst es genannt hatte – Höhepunkt seiner Laufbahn, die Freilegung Henochs, noch einmal überbieten zu wollen? Was konnte bedeutender sein als die Freilegung der ersten Stadt der Menschheit?
    Cendrine hatte plötzlich das Gefühl, schleunigst von diesem Ort fortzumüssen, zurück nach Windhuk, oder besser noch weiter nach Osten, tief ins Innere der Wüste.
    Mädchenphantasien, schalt sie sich. Dein Sinn für Romantik geht mit dir durch.
    »Ist Ihnen nicht wohl?« fragte Pinter plötzlich. »Sie sind mit einemmal so blaß.«
    »Ich … mir ist nur etwas schwindelig. Ich glaube, wir sollten bald nach Hause reiten.«
    »Nicht, bevor ich ein paar Dinge hier im Lager erledigt habe«, gab Elias ein wenig unwirsch zurück. »Deshalb bin ich schließlich hergekommen – schon vergessen?« Cendrine befürchtete, daß sie seine Geduld endgültig überstrapaziert hatte.
    »Ich lasse eine Liege für Sie aufstellen«, sagte Pinter. »Hier im Zelt, wenn Sie mögen, oder draußen im Schatten. Ruhen Sie sich ein wenig aus.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich habe es schon immer gesagt, und ich sage es heute noch einmal: Afrika ist kein Land für Frauen.« Etwas leiser setzte er hinzu: »Eigentlich ist es überhaupt kein Land für Menschen wie uns.«
    ***
    Die Dunkelheit war längst hereingebrochen, als sie auf ihren Kamelen den Pfad zum Dorf hinaufschaukelten. Es war eiskalt geworden, ihr Atem wogte als weißer Dunst vor ihren Lippen. Elias’ Haus bot sich als schwarzer Koloß vor einem überwältigenden Sternenhimmel dar. Die Gestirne brannten wie Raubtieraugen in der Finsternis, während aus der Tiefe das behäbige Anrollen der Brandung gegen die Dünen ertönte.
    Cendrines Kamel ging in die Hocke und ließ seine Reiterin absteigen. Wortlos glitt sie aus dem Sattel, kümmerte sich nicht darum, wohin Elias die Tiere brachte, schleppte sich nur völlig erschöpft die Verandatreppe hinauf und schloß die Tür auf. Wenig später sank sie auf ihr Bett, unfähig, über die Erlebnisse und Pinters Ausführungen nachzudenken. Als Elias ins Haus kam, war sie längst eingeschlafen.
    Viel später, irgendwann in der Nacht, hörte Cendrine, wie jemand ihren Namen rief. Eine Frauenstimme, weit entfernt und von einem langgezogenen Hall verzerrt.
    Cendrine!
    Sie stand auf und fröstelte. Sie hatte am Abend kein Nachthemd übergezogen. Ihre nackte Haut schimmerte bläulich im Sternenlicht.
    Allmählich kam in den Nächten der Frost über die Wüste, fast zu spät für diese Jahreszeit. Der Juli war einer der kältesten Monate in Südwest, und nachts drängten sich die Nomaden draußen in der Namib eng aneinander, um nicht zu erfrieren. Cendrine hatte die Winternächte, die stets völlig unvermittelt auf die Wärme des Tages folgten, schon während ihrer Reise durchs Kaokoveld fürchten gelernt, aber jetzt, in dieser Nacht, fror sie stärker als jemals zuvor.
    Cendrine!
    Sie hatte diese Stimme früher schon gehört, obwohl sie niemandem gehörte, den sie kannte. In ihrem ersten Traum von der Wüste, im Angesicht der Ruinen von Henoch, hatte die Frau schon einmal nach ihr gerufen.
    Doch das war ein Traum gewesen. Und dies hier?
    Cendrine trat ans Fenster und öffnete es. Draußen war es dunkel, natürlich, und die Kälte strömte herein wie eine Woge.
    Irgend etwas war anders. Etwas fehlte.
    Das Meer bewegte sich nicht; es war erstarrt. Die Geräusche der Brandung waren verklungen, nur das leise Säuseln des Windes drang an Cendrines Ohren.
    Sie begriff, daß das Meer gar kein Meer war, sondern ein Ozean aus Dünen, der sich im Sternenlicht grau gewellt bis zum Horizont erstreckte.

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