Göttin der Wüste
waren.
»Die Kalahari ist das Land der Ersten Rasse«, sagte Nanna plötzlich, nachdem beide eine Weile schweigend dem Verlauf der Klippe gefolgt waren. »Das erzählt man sich zumindest.«
»Wer ist damit gemeint?«
»Es gibt keinen anderen Namen dafür. Die Erste Rasse war vor allen anderen in der Welt. In der Kalahari wuchs der Lebensbaum der Weißen Göttin, und die Menschen der Ersten Rasse waren seine Hüter.«
»Stammen die San von ihnen ab?«
»Wenn du sie selbst fragst, gewiß. Andere mögen das nicht so sehen. Aber, ja, die San behaupten von sich, sie seien die ersten Menschen gewesen, die über die Welt wanderten. Allerdings habe ich nie gehört, daß sie über den Lebensbaum oder die Weiße Göttin sprachen.«
»Und du? Was weißt du darüber?« fragte Cendrine.
»Nichts. Nur diese Namen. Wer die Weiße Göttin war, und ob es je eine Pflanze gab, die man Lebensbaum nannte … vielleicht wissen die San mehr darüber.«
»Magst du die San eigentlich?«
»Sie sind anders als wir. Wir Herero lieben den Boden, auf dem wir leben, wir glauben, daß er jedermann gehört, nicht nur den Schwarzen oder Weißen. Jeder hat überall das Recht, sein Vieh das Gras fressen und das Wasser trinken zu lassen. Deshalb kämpfen einige von meinem Volk gegen euch Deutsche: weil ihr Zäune zieht und auf jene schießt, die auf die andere Seite klettern.« Einen Moment lang sog Nanna durch die Nase den frische Wind ein, der vom Atlantik landeinwärts wehte. »Die San sind ganz anders. Während wir Herero alle Tiere lieben, sind die San ein Volk von Jägern. Sie ziehen umher, sie sind nirgends zu Hause. Elias hat sie mal die Zigeuner der Wüste genannt – wahrscheinlich verstehst du besser als ich, was er damit gemeint hat. Auf jeden Fall sind die San voller Rätsel, auch für uns. Und wenn du mich fragst, ob ich sie mag, muß ich sagen: Ich verstehe sie zuwenig, um dir darauf eine gute Antwort geben zu können. Ich liebe sie nicht, soviel steht fest, aber ich hege auch keine Abneigung gegen sie.« Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: »Nein, das ist nicht wahr. Ich halte sie für überheblich. Wie euch Weiße. Ja, man könnte wohl sagen, die San sind die Weißen Afrikas.« Dabei lachte sie so fröhlich, daß Cendrine nicht anders konnte, als mit einzufallen.
»Inwiefern?« fragte sie nach einer Weile.
»Sie glauben nicht nur, sie seien die ersten Menschen gewesen. Sie behaupten auch, sie hätten das Licht in die Welt geholt.«
»Das Licht?«
»Die Sonne«, sagte Nanna mit einem Nicken. »Die San erzählen sich, daß einst, als die Welt noch jung war, eine große Dunkelheit herrschte. Eines Tages aber sahen sie in der Ferne eine rote Glut aufleuchten. Daraufhin zogen sie los und entdeckten einen alten Mann, der im Sand lag und schlief. Immer, wenn er sich herumwälzte und seine Arme streckte, strahlte unter seinen Achselhöhlen das rote Leuchten hervor. Die San beschlossen, den alten Mann hoch in den Himmel zu werfen, so daß sein Licht auf die ganze Welt herabscheine. Hoch in der Luft spreizte der Mann die Arme, vielleicht um zu fliegen, und je höher er kam, desto weißer und heller wurde sein Schein. Das Licht fiel über die Wüste und alle Länder jenseits der Dünen, und die San konnten endlich auf die Jagd gehen und Beute machen. Dann aber, nach einer Weile, sank der Mann zurück zum Boden und wurde dabei in rotes Feuer gehüllt. Am nächsten Tag warfen die San ihn wieder hinauf, und so taten sie es auch an allen folgenden Tagen, bis der Alte Gefallen daran fand und seither freiwillig am Morgen in den Himmel steigt und am Abend wieder glühend in den Boden fährt.« Nanna deutete lächelnd zur Sonne, deren Rand jetzt auf der anderen Seite des Meeres den Horizont berührte. »Das da verdanken wir also den San. Ist das nicht überheblich?«
Cendrine blinzelte in den Sonnenuntergang, und als sie Nanna wieder anschaute, tanzten bunte Funken einen Reigen vor ihren Augen. »Glaubst du, die San sind Magier?«
»Für eine Weiße stellst du sonderbare Fragen.«
»Ich habe sonderbare Dinge erlebt.«
»Ja, das kann ich spüren.«
Cendrine schaute Nanna erstaunt an und fragte sich, ob sie das ernst meinte. Doch im Gesicht der Herero fand sie keine Antwort, und sie wagte nicht, die Frage offen zu stellen.
Nanna ließ sich am Rande eines Felsbrockens nieder, der wie eine mannshohe Nase aus der Klippe stach. Die Luft wurde allmählich empfindlich kalt, und doch weigerte sich etwas in Cendrine, jetzt schon zurück zum
Weitere Kostenlose Bücher