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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Haus zu gehen. Sie fühlte sich auf wundersame Weise geschützt und behaglich in Nannas Nähe.
    »Die San mögen Magier sein, so wie alle Menschen Magier sind«, sagte Nanna mysteriös. »Aber vielleicht sind sie mächtiger als jeder von uns.«
    Cendrine setzte sich neben sie. Ihr Oberschenkel berührte den von Nanna, und ihr war, als durchfahre sie dabei eine wundersame Wärme.
    »Elias hat mir alles über dich erzählt«, sagte Nanna unvermittelt. »Über dich und über ihn.«
    »Ja«, entgegnete Cendrine leise, »das habe ich mir gedacht.«
    »Er liebt dich sehr.«
    »Wie eine Schwester.«
    Darauf gab Nanna keine Antwort. Cendrine hätte gern gewußt, was jetzt in ihrem Kopf vorging, zog es aber vor, zu schweigen und abzuwarten.
    Zu ihrem Erstaunen wechselte Nanna abermals das Thema. Sie drehte den Oberkörper und wies mit ausgestrecktem Arm nach hinten, über die Wüste hinweg nach Osten.
    »Siehst du die Sterne?« fragte sie.
    Cendrine nickte. »Ein paar. Der Rest erscheint erst, wenn die Sonne untergegangen ist.«
    »Du mußt versuchen, ihnen zuzuhören. Es heißt, die Sterne hätten die ersten Menschen die Sprache von Erde, Tieren und Pflanzen gelehrt.«
    »Und warum haben wir sie dann wieder verlernt?«
    »Nicht alle haben das«, sagte Nanna. »Es gibt immer noch einige, die sie verstehen können. Wenn sie nur zuhören.«
    Cendrine spürte, wie sich eine sanfte Benommenheit ihrer bemächtigte. Einen Augenblick lang fürchtete sie, gerade jetzt könnte sie wieder von einer ihrer Visionen befallen werden. Doch die Küste um sie herum blieb dieselbe, und auch Nanna saß unverändert neben ihr. Die Berührung ihrer Schenkel schien mit einemmal noch intensiver.
    »Glaubst du wirklich, daß die Sterne sprechen können?« fragte Cendrine.
    »Solange ihnen noch jemand zuhört. Das eine ist die Wurzel des anderen. Wenn der letzte Mensch das Zuhören verlernt hat, werden auch die Sterne schweigen.«
    »Dann ist das Sprechen eine Form von Magie?«
    »Heißt es nicht in eurer Bibel, das Wort Gottes habe den Menschen geschaffen?« fragte Nanna. »Hast du dir je Gedanken darüber gemacht?«
    Cendrine schüttelte den Kopf. »Nein.«
    »Wie kann Gottes Wort den Menschen erschaffen haben, wo doch der Mensch das Wort erschuf?«
    Cendrine dachte einen Moment nach, dann sagte sie: »Es ist wie bei den Sternen, das meinst du doch, oder? Das eine ist die Bedingung des anderen. Ein Kreislauf ohne Anfang.«
    »Aber vielleicht mit einem Ende«, sagte Nanna.
    »Was für ein Ende?«
    Nanna hob verträumt das Gesicht und badete es im Licht der ertrinkenden Sonne. »Es endet bei der Frage nach dem Unterschied. Oder, genaugenommen, nicht bei der Frage, sondern bei der Antwort darauf.«
    »Um ehrlich zu sein, Nanna, ich verstehe kein Wort.«
    »Die Frage lautet: Was unterscheidet das Wort Gottes vom Wort des Menschen?«
    »Und die Antwort?«
    »Die Antwort ist das Ende. Ich bin froh, daß ich sie nicht kenne.«
    »Ich glaube, ich bin zu müde um –«
    Nanna ließ sie nicht ausreden. »Setzen wir voraus, die Antwort auf die Frage ist das Ende des Kreises, genau wie auch der Unterschied selbst das Ende des Kreises bedeuten kann. Was also geschieht, wenn die Antwort lautet, daß es gar keinen Unterschied gibt? Endet dann der Kreis oder nicht?«
    Cendrines Benommenheit nahm mit jedem Wort zu. Erneut war sie nicht sicher, ob dies tatsächlich die Wirklichkeit oder bereits der Traum war, die Welt jenseits der Welt. Die Ebene der Schamanen.
    Aber warum war Nanna dann noch bei ihr?
    »Nur einmal angenommen, es gäbe gar keinen Unterschied zwischen dem Wort Gottes und dem Wort des Menschen«, fuhr Nanna unbeirrt fort, in einem sehr ruhigen, beinahe beschwörenden Tonfall. »Das würde doch bedeuten, daß auch das Wort des Menschen ein Akt der Schöpfung ist. Was aber erschafft der Mensch mit seinem Wort? Was sind das für Dinge oder Wesen, die aus seinem Wort entstehen? Und wo entstehen sie?«
    Cendrine wußte nicht, wer ihr die Antwort eingab, doch als sie über ihre Lippen kam, geschah das mit der größten Selbstverständlichkeit.
    »In der Wüste«, sagte sie tonlos.
    Nanna sah sie nur an und schwieg.
    Dann, nach einer Weile, stand sie auf und führte Cendrine zurück zum Haus.
    ***
    Die Karawane aus Zesfontein erreichte das Dorf drei Tage später. Einen ganzen Nachmittag lang wurde das Treiben auf dem Marktplatz von ohrenbetäubendem Geschrei beherrscht, während die Händler aus dem Osten mit Schatzsuchern und Eingeborenen um die Wette

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