Göttin der Wüste
Cendrines Fähigkeiten ging. Fähigkeiten, die jene Adrians um ein Vielfaches überstiegen, eine Begabung, neben der sogar die Macht der größten San-Schamanan verblassen mußte.
Erst hatte er nicht gewußt, was es war, das er in Cendrines Anwesenheit spürte. Doch dann, sehr schnell, war ihm die Wahrheit klargeworden. Sie war eine von ihnen. Mächtiger als alle, die ihm bisher begegnet waren. Er hatte seine eigene Macht nie völlig zu beherrschen gelernt. Sicher, er wußte gewisse Dinge: Er konnte die Gedanken anderer lesen, die ähnlich veranlagt waren wie er – selbst bei Qabbo war es ihm vor Jahren schon gelungen –, und manchmal schaffte er es, seine Gedanken auf die Reise in jene anderen Welten zu schicken, die sich nur den Kundigen unter den Schamanen eröffneten. Doch mehr als einen kurzen Blick hatte er sich nie gestattet, zu sehr hatte ihn Haupts Bericht vom Schicksal seines Bruders abgeschreckt.
Aber Cendrine? Wenn sie wollte, war sie allen anderen überlegen, auch Qabbo, und Adrian hatte noch von keinem gehört, der es mit ihm hätte aufnehmen können. Qabbo mußte schon gespürt haben, was es mit Cendrine auf sich hatte, als sie in Swakopmund an Land gegangen war.
Qabbos Position innerhalb der führerlosen San-Gemeinschaft war einzigartig. Es gab mehrere Weise wie ihn, mächtige Schamanen, die für Außenstehende wie Priester erscheinen mochten, in Wahrheit aber nichts mit dem europäischen Bild eines Priesters gemein hatten. Sie alle genossen gewisse Privilegien, wären aber nie so weit gegangen, darauf zu bestehen; was man ihnen gab, wurde freiwillig gegeben, ohne jeden Zwang. Auch Qabbo bildete, was dies anging, keine Ausnahme.
Anders jedoch als die übrigen Weisen der San glaubte Qabbo, daß die Macht der Schamanen auch außerhalb ihres Volkes existierte, mehr noch: Er war der Überzeugung, daß diese Macht in Menschen, die ohne den Glauben an den Schamanismus der Wüstenvölker aufwuchsen, weit stärker war. Bei ihnen war der Kontakt mit den Gottheiten der Wüste noch nicht zur Gewohnheit erstarrt.
»Das Feuer eurer Macht«, hatte Qabbo einst zu Adrian gesagt, als dieser fast noch ein Kind gewesen war, »vermag heller und heißer zu brennen als das eines jeden von uns. Wir wissen von Geburt an um unsere Kräfte, sie sind wie die stete Glut in einem Lagerfeuer. In euch aber kann diese Kraft wie eine Stichflamme entfacht werden, stark und unvermittelt.«
War Cendrine in Gefahr, einem ähnlichen Schicksal entgegenzugehen wie Wilhelm Haupt?
Er hätte viel dafür gegeben, auf diese Frage eine Antwort zu finden. Als seine Mutter ihm erzählt hatte, daß Cendrines Bruder gefunden worden war, hatte Adrian eine Weile lang Hoffnung geschöpft. Die größte Gefahr für Cendrine war Qabbo, und er hielt sich derzeit in Windhuk auf. Womöglich war es von Vorteil, wenn Cendrine eine Weile fortging. Im Augenblick schien sie beinahe überall sicherer zu sein als hier im Tal.
Seit Tagen versuchte Adrian nun schon, mit ihr in Kontakt zu treten. Er wußte, daß es möglich war – Qabbo war früher mehr als einmal in seinen Träumen und Gedanken erschienen –, doch Adrian fehlte das nötige Wissen, um die Verbindung zu ihr herzustellen. Er hatte es auf zahlreichen Wegen versucht, hatte sogar eines der San-Rituale nachgestellt, die er als Kind beobachtet hatte – alles ohne Erfolg. Mittlerweile zog er sich in Cendrines Zimmer zurück, wenn er versuchte, sie zu erreichen; hier hatte sie ein Jahr lang gelebt, hier war ihr Geist am deutlichsten zu spüren. Doch nicht einmal das hatte bislang geholfen.
Und wenn es einen anderen Grund gab, der verhinderte, daß Adrian in Kontakt zu ihr trat? Wenn die San ihm zuvorgekommen waren und Cendrine längst das Schicksal von Haupts Bruder teilte?
So schmerzhaft es war, er mußte diese Möglichkeit in Erwägung ziehen. Nur eines sprach dagegen. Wenn Adrian sich konzentrierte und versuchte, seinen Geist auf die Reise zu schicken, in jene Sphären, zu denen nur die Schamanen Zutritt besaßen, dann vernahm er einen Ruf. Einen Ruf, der Cendrine galt. Es war, als wäre die gesamte Geisterwelt von diesen Signalen erfüllt, Wegweisern, die jemand für Cendrine ausgestreut hatte. Und etwas an der Intensität dieser Rufe brachte Adrian zu dem Schluß, daß es sich nicht um Qabbo handeln konnte. Sie klangen feminin. Auf jene merkwürdige, schwer zu bestimmende Art und Weise, in der sich die Dinge in der anderen Welt darstellten, besaßen diese Rufe eine Aura von Weiblichkeit.
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