Göttin der Wüste
völliger Schwärze versank. Irgendwann würde das Tier von sich aus zurückkehren, dorthin, wo es Wasser und Futter gab, aber bis dahin, hoffte Cendrine, würden noch eine oder zwei Stunden vergehen.
Sie nahm sich nicht die Zeit, nach Verfolgern Ausschau zu halten. Statt dessen erhob sie sich flink aus dem Sand – ihre Knie schmerzten, aber das ignorierte sie –, lief an den vorderen Wagen vorbei und zog sich am vierten in die Höhe. Er war mit Kisten beladen, die nach stark gewürztem Fleisch rochen. Hinter ihnen ging sie in Deckung und beobachtete durch einen Spalt, was weiter geschah.
Es dauerte einige Minuten, bis jemand in ihr beengtes Sichtfeld trat. Es war ein Mann in Uniform, und als er sich umschaute und ihr dabei kurz das Gesicht zuwandte, erkannte sie, daß es Valerian war. Tiefe Sorge sprach aus seiner Miene. Sie fragte sich, was jetzt in ihm vorging, da er annehmen mußte, sie sei ohne Vorräte hinaus in die Wüste geritten. Wahrscheinlich glaubte er, daß sie den Verstand verloren hatte.
Noch während er dastand, galoppierten plötzlich zwei Pferde an ihm vorüber und wirbelten mit ihren Hufen Sand auf. Die Reiter hatten sich weit vorgebeugt, damit ihre Rösser noch schneller liefen. Sie folgten der Spur von Cendrines Kamel.
Ein Offizier trat an Valerians Seite. Er sprach leise, und Cendrine mußte den Atem anhalten, um seine Worte zu verstehen.
»Mehr können wir nicht entbehren«, sagte er. »Die erste Kompanie setzt sich in spätestens einer halben Stunde in Bewegung. Wenn sie bis dahin nicht gefunden wird, müssen wir sie aufgeben. Wir brauchen die Fährtensucher anderswo.«
»Ja«, erwiderte Valerian niedergeschlagen, »ich weiß.«
Der Offizier, ein grauhaariger Mann mit väterlichem Lächeln, legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Waren Sie beim Stabsarzt, wie ich es Ihnen gesagt habe?«
»Ja … nein, ich –«
»Ich verstehe, wie es Ihnen ergeht. Wirklich, das tue ich. Sie sind nicht der einzige, der so etwas durchmacht.«
Valerian schaute noch einmal ins Nachtdunkel, dann machte er gemeinsam mit dem älteren Mann kehrt. »Wahrscheinlich nicht«, murmelte er.
Im Fortgehen redete der Offizier weiter auf ihn ein, aber Cendrine konnte nicht mehr hören, was er sagte. Sie machte es sich in ihrem Versteck zwischen den Kisten bequem und erkundete mit verstohlenen Blicken, ob sich Wasservorräte in dem Wagen befanden. Sie konnte keine entdecken. Statt dessen gelang es ihr, einen der zugenagelten Kistendeckel zu öffnen und eine stark geräucherte Wurst, hart wie ein Eichenast, aus dem Inneren zu fischen. Das Fleisch war versalzen und machte durstig, doch zumindest gab es ihr die Gewißheit, daß sie nicht verhungern würde.
Sie dachte über ihre Lage nach. Vom Schlachtfeld am Waterberg aus waren die Frauen und Kinder der Herero nach Osten geflohen, tiefer in die Wüste. Die Flüchtlinge hatten einen Vorsprung von rund vier Tagen, sogar zu Fuß mußten sie in dieser Zeit tief in die Kalahari vorgedrungen sein. Wenn sie sich dabei einigermaßen östlich hielten, kreuzte ihr Weg dabei fast die Route, die Cendrine nach Henoch hatte nehmen wollen. Mit etwas Glück würde es ihr gelingen, mehr als die Hälfte des Weges im Wagen zurückzulegen. Und selbst wenn die Soldaten sie unterwegs entdeckten, würde man sie wohl kaum fortschicken oder gar zurücklassen.
Die Vorhersage des Offiziers erwies sich als allzu optimistisch. Mehr als eine Stunde verging, ehe endlich zwei Männer auf den Kutschbock stiegen, Cendrine konnte die beiden aus ihrem Versteck heraus nicht sehen, hörte aber, wie sie sich unterhielten und auf die »Niggerweiber« schimpften, die in ihren Augen die Schuld an dem ganzen Malheur trugen. Offenbar war niemand im Fort begeistert von der Vorstellung, tagelang durch die offene Wüste zu ziehen, nur um den Familien der geschlagenen Rebellen zu Hilfe zu kommen.
Ruckend setzte sich der Planwagen in Bewegung. Cendrine strich nervös über Pinters Karte, die sie unter ihrem Hemd am Körper trug, dann lehnte sie sich zurück und bemühte sich vergeblich zu schlafen.
***
Während der Fahrt lief Cendrine kein einziges Mal Gefahr, entdeckt zu werden. Die beiden Kutscher waren so mit sich und ihrem Unmut beschäftigt, daß sie den hinteren Teil des Planwagens völlig unbeachtet ließen. Die Vorräte, die in den Kisten lagerten, waren offenbar für die Flüchtlinge gedacht, denn niemand zeigte auch nur das geringste Interesse daran; die Rationen der Soldaten waren in anderen Wagen
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