Göttin der Wüste
verstaut.
In der zweiten Nacht, die Cendrine eingepfercht zwischen den Kisten verbrachte, wurde der Trupp unerwartet aufgeschreckt, als ein Bote in gestrecktem Galopp an der Kolonne vorüberritt und immer wieder rief: »Sie sind vor uns! Sie sind höchstens noch ein paar Stunden vor uns!«
Einer der beiden Männer auf dem Kutschbock erwachte von den Rufen und murmelte einen Fluch. Cendrine wagte fortan nicht mehr weiterzuschlafen. Ihre Glieder waren so steif, als wäre jede Muskelfaser zu Stein erstarrt. Zwar konnte sie sich hinter den Kisten einigermaßen strecken, wenn ihre Lage allzu unbequem wurde, doch auch das machte den Boden und das Holz in ihrem Rücken nicht weicher. In der vergangenen Nacht, als der Trupp einige Stunden angehalten hatte, war sie im Schutz der Dunkelheit unter den Wagen geklettert um auszutreten. Außerdem hatte sie einen Wasserschlauch, der vorne am Kutschbock hing, halb leer getrunken, in der Hoffnung, die beiden Fahrer würden es nicht bemerken, wenn sie wieder aus den Mannschaftszelten krochen.
Jetzt aber, fast zwanzig Stunden später, hatte sie erneut das dringende Bedürfnis, Wasser zu lassen, und der Durst verklebte ihr die Kehle. Sie hatte auf ein weitere Pause wie jene in der letzten Nacht gehofft, doch nun, da das Ziel so kurz vor ihnen lag, würden die Befehlshaber die Wagen gewiß nicht mehr anhalten lassen. Sie hatte keine andere Wahl, als durchzuhalten.
Als die Reiter und Wagenlenker endlich ihre Tiere zügelten, war jenseits der halbrunden Öffnungen des Planwagens bereits die Dämmerung angebrochen. Rufe und Befehle gellten durch die Morgenluft, die kurz vor jenem magischen Wechsel zwischen nächtlicher Kälte und Tageshitze stand. Cendrine war durchaus bewußt, daß man sie bald entdecken würde, spätestens wenn die ersten Kisten abgeladen wurden; sie überlegte, ob es besser war, sich freiwillig zu stellen. Doch schließlich sagte sie sich, daß es ihr dann gewiß nicht mehr gelingen würde, ein Kamel und Verpflegung zu stehlen. Nein, sie mußte noch eine Weile länger aushalten und konnte nur hoffen, daß sich irgendwann eine Gelegenheit zur Flucht bot.
Den Gesprächen der vorbeilaufenden Soldaten entnahm sie, daß die Herero noch einige Kilometer entfernt waren. Offenbar sollten erst Boten ausgesandt werden, um die Frauen und Kinder auf den Anblick der Soldaten und Wagen vorzubereiten. Die Offiziere schienen zu befürchten, daß unter den Eingeborenen Panik ausbrach, was ihre Aufgabe, sie zurück nach Westen zu bringen, nicht gerade erleichtern würde.
Die beiden Fahrer waren schon vor geraumer Zeit vom Kutschbock gestiegen und hatten den Wagen unbewacht zurückgelassen. Cendrine nutzte die Chance und trank einen Großteil des Wasservorrats, den die Soldaten unter ihrer Bank zurückgelassen hatten. Danach ging es ihr ein wenig besser, was allerdings nichts daran änderte, daß ihr bald die Blase platzen würde.
Nachdem eine weitere halbe Stunde vergangen war, kletterte sie im Schütze des Zwielichts aus dem Wagen und verkroch sich flink zwischen den großen Speichenrädern. Die meisten Soldaten hatten sich weiter vorne versammelt. In diesem Teil des Zuges hielten sich nur eine Wachpatrouille und ein paar vereinzelte Männer auf, die sich um die Tiere in den Wagengeschirren kümmerten. Cendrine erleichterte sich ungestört und fühlte sich dabei unsauber und gedemütigt; wenn es eines gab, an das sie sich trotz der langen Reise nicht gewöhnen konnte, dann waren es das Austreten im Freien und die erbärmliche Hygiene.
Eilig stieg sie zurück in den Wagen und suchte sich eine Position, von der aus sie über den leeren Kutschbock hinweg beobachten konnte, was sich an der Spitze des Zuges tat. Der Pulk der Soldaten und ihrer Befehlshaber war etwa fünfzig Meter entfernt, und Cendrine verstand nichts von dem, was gesprochen wurde, abgesehen von dem einen oder anderen gebrüllten Befehl. Aber selbst aus dieser Entfernung konnte sie sehen, wie bleich die meisten Männer wurden, als die berittenen Boten von den Herero zurückkehrten.
Minutenlang brach sogar das ferne Murmeln ab, das als unverständlicher Klangteppich an Cendrines Ohren gedrungen war. Der Großteil der Soldaten, in Reih und Glied unweit ihrer Offiziere aufmarschiert, blieb weiterhin starr und unbeweglich, aber jetzt schien es fast, als wären sie wie gelähmt angesichts dessen, was die Boten berichtet hatten. Auch die Befehlshaber brauchten einen Moment, ehe sie Worte fanden. Dann gellte auch schon eine
Weitere Kostenlose Bücher