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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Tieren. Das Kamel erhob sich sofort in den Stand und machte zwei weite Schritte über das Seil der Absperrung. Cendrine schaute sich nicht um, als sie das Tier auf schnellstem Wege aus dem Lichtkreis lenkte.
    Das Lager der Soldaten lag in einem seichten Tal, dessen Hänge sich im Falle eines Angriffs als Verteidigungswälle nutzen ließen. Als Cendrine die Anhöhe in östlicher Richtung erklomm, erkannte sie, daß das Tal mit seinem struppigen Grasbewuchs zugleich auch das letzte Stück Vegetation beherbergte; gleich dahinter begann ein sternenbeschienenes Dünenmeer, das dem aus ihren Träumen glich. Ein Großteil der Spuren, die vom Lager fort nach Osten führten, war bereits verweht. Dennoch erkannte Cendrine in der Dunkelheit die eine oder andere Schneise zwischen den Dünen, wo die Planwagen tiefe Furchen im Sand hinterlassen hatten. Ihnen folgte sie und trieb das Kamel zu schnellerem Tempo an.
    Den ganzen Nachmittag über waren Trupps vom Lager aufgebrochen und wieder zurückgekehrt, ein ständiges Kommen und Gehen, und schließlich hatte Cendrine den Überblick verloren. Sie wußte nicht, ob am Abend noch Männer gefehlt hatten, und ebenso war sie sich im unklaren darüber, ob der unbekannte Ort, zu dem sie nun unterwegs war, bewacht sein würde.
    Sie mußte etwa zwei öder drei Kilometer weit geritten sein, als die Dünen flacher wurden und schließlich in eine weite Ebene übergingen. Der Boden war hart und mit einem Spinnennetz von Rissen durchzogen, wie der Grund eines ausgetrockneten Sees. Sie ließ das Kamel jetzt langsamer laufen, damit es sich auf dem harten Boden nicht verletzte. Das hätte ihr gerade noch gefehlt.
    Zwei weitere Kilometer mußte sie hinter sich lassen, ehe sie vor sich im Sand etwas bemerkte. Der Sternenhimmel übergoß die Landschaft mit einem weißblauen Schimmer, der von dem hellen Boden reflektiert wurde. Es war ein geheimnisvolles Licht, das mehr zu verbergen schien, als es offenbarte, und trotzdem war das, was vor Cendrine aus dem Boden ragte, deutlich zu erkennen.
    Aus der Ferne hatte es noch ausgesehen wie ein gekrümmter Ast, die Überreste eines abgestorbenen Strauches vielleicht. Doch von nahem gab es keinen Zweifel – es war der Arm eines Menschen.
    Er lag nicht etwa abgetrennt im Sand, nein, er ragte vom Schultergelenk an aus dem Boden, verwinkelt und mit verkrampften Fingern, die aussahen wie die Beine einer toten Tarantel.
    Cendrine schaute sich alarmiert um, und obwohl weit und breit kein Mensch zu sehen war, wagte sie nicht, vom Kamel zu steigen und den bizarren Arm genauer zu betrachten. Sie zitterte jetzt am ganzen Körper, obwohl sie sich längst die Decke um die Schultern gelegt hatte. Falls es noch kälter wurde, blieb ihr nur noch die Satteldecke.
    Aber ihr Zittern rührte natürlich nicht nur von der Kälte her, auch wenn sie sich das weismachen wollte. Der Arm im Sand war schlimm genug, doch das, was sie hundert Meter weiter erwartete, übertraf alles, was sie bisher gesehen hatte.
    Der Oberkörper einer Frau ragte aus dem Boden, weit vorgebeugt, so daß ihre verfilzten Zöpfe den Sand berührten. Ihre Arme waren in einer flehenden Geste ausgebreitet, und als Cendrine genauer hinsah, entdeckte sie unter den Brüsten der Frau den Leichnam eines Säuglings. Er war nur einige Fingerbreit im Boden versunken. Die Frau mußte ihn bis zuletzt in ihren Armen gehalten haben. Zu diesem Zeitpunkt aber war der Boden des Flußbetts – denn darum mußte es sich handeln – bereits erstarrt.
    Die Herero mußten versucht haben, das Gelände zu überqueren, als der Grund noch schlammig gewesen war, eine Folge der starken Niederschläge während der Regenzeit. Die Riviere führten stets nur für kurze Zeit Wasser, dann zumeist in Form heftiger Ströme, die jedoch innerhalb weniger Tage versiegten. Eine Weile lang blieb der Boden danach noch zäh und morastig, um dann unvermittelt zu einer zementharten Masse zu erstarren. Das Flußbett, in dem Cendrine sich befand, war so breit, daß sie seine Ränder nicht ausmachen konnte. Möglich, daß es sich an dieser Stelle zu einem weiträumigen See ausweitete. Die Herero waren geradewegs hineinmarschiert, in der Hoffnung, rechtzeitig die andere Seite zu erreichen. Wahrscheinlich waren sie mit jedem Schritt ein wenig tiefer eingesunken, und als ihnen endlich das wahre Ausmaß der Schlammebene bewußt geworden war, war es längst zu spät gewesen. Der aufgeweichte Wüstenboden hatte sie tiefer und tiefer hinabgesogen und war dann

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