Göttin der Wüste
innerhalb von drei, vier Tagen steinhart geworden. Die meisten waren zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich schon tot oder wahnsinnig gewesen.
Cendrine saß stocksteif im Sattel, während sie das Kamel weiter vorantrieb. Sie wußte, was sie erwartete, aber sie konnte jetzt nicht mehr umkehren. Nach wenigen Schritten stieß sie auf drei tote Hyänen, die offenbar von den Soldaten erschossen worden waren. Immer wieder hatte sie das Gefühl, daß sich am Rande ihres Blickfeldes etwas bewegte, blitzschnelle Schatten, die über die Ebene schossen, Schakale vielleicht, noch mehr Hyänen oder andere Aasfresser der Omaheke. Sie war froh, so hoch oben zu sitzen, und tätschelte dem Kamel geistesabwesend den borstigen Hals.
Mehrfach sah sie jetzt halbversunkene Leichen: Frauen, Kinder, hier und da auch einen Ochsen, den die Flüchtlinge gen Osten getrieben hatten. Sie hatte keine Ahnung, wie viele Herero vor den weißen Kolonialherren geflohen waren, doch sie hatte die Befürchtung, daß ihr das Schlimmste noch bevorstand.
Der Dünenrand der Ebene lag etwa fünf oder sechs Kilometer hinter ihr, als sie den Hauptpulk des einstigen Flüchtlingszuges erreichte. Sie krallte sich mit beiden Händen so fest in das Fell ihres Reittiers, daß das Kamel wütend aufbrüllte. Der Laut hallte gespenstisch über die Ebene und verklang langgezogen in der Ferne.
Es mußten mehr als tausend Menschen sein, die auf einem Gebiet von nicht einmal fünfhundert Quadratmetern den Tod gefunden hatten. Von weitem hatte der Anblick eine gewisse Ähnlichkeit mit dem versteinerten Wald, den Cendrine und ihre Eskorte im Kaokoveld passiert hatten – verzogene, bizarre Formen, die sich schwarz vom helleren Sand abhoben –, doch schon der Geruch nach Aas und Verwesung belehrte sie beim Näherkommen eines Besseren.
Arme, die wie abgeknickte Schößlinge aus dem Boden ragten; Oberkörper, manche bis zu den Hüften ins Erdreich gesaugt; Menschen, die sich flach auf Bauch oder Rücken geworfen hatten, um dem Unausweichlichen zu entgehen, und dabei fast gänzlich verschwunden waren – von einigen war nur noch ein Arm, eine Hand oder gar der Hinterkopf zu sehen. Einmal riß Cendrine das Kamel im letzten Augenblick herum, bevor es mitten in ein Gesicht treten konnte, das sich wie ein einsamer, sonderbar geformter Stein aus dem Sandboden erhob.
Cendrine blieb gerade noch genug Zeit, sich seitlich aus dem Sattel zu beugen, dann übergab sie sich. Als sie sich wieder aufrichtete, war ihr schwindelig, die Ebene begann sich um sie zu drehen, und das Kamel trug sie aus eigenem Antrieb weiter vorwärts, immer tiefer hinein in diesen grotesken Leichengarten, bis sie schließlich nichts anderes mehr um sich sah als verzerrte, eingefallene Fratzen, im Winken erstarrte Arme und Rückenpartien, die wie knöcherne Inseln aus dem Sand hervorschauten. Die meisten Toten waren Frauen und Kinder, aber sie sah auch immer wieder Männer, die gemeinsam mit ihren Familien die Flucht ergriffen hatten. Manche mochten eingesehen haben, wie aussichtslos der Krieg gegen die weißen Eroberer war, andere hatten sich womöglich nicht von ihren Frauen trennen wollen. Es war entsetzlich, sich vorzustellen, daß all diese entstellten Kadaver einmal Menschen mit Wünschen, Zielen und Sehnsüchten gewesen waren, und der Gedanke, daß es die deutschen Kolonisten gewesen waren, die für diese Katastrophe verantwortlich waren, weckte Schuldgefühle in ihr.
Die Landschaft schwankte und drehte sich noch immer, und obwohl das Kamel beständig weiterlief, gänzlich unbeeindruckt von der Umgebung, kam es Cendrine so vor, als bliebe sie selbst auf der Stelle stehen, die Gefangene einer Wüste, die sie mit unsichtbaren Klauen festhielt. Wie ein Windhauch streifte sie die Erkenntnis dessen, was die Herero empfunden haben mußten, als um sie ganz langsam der Boden erstarrte, eingeschlossen von den Sandmassen der Omaheke, in der unerbittlichen Gewißheit, daß sie sterben würden – sie selbst, ihre Kinder und alle, an denen ihnen etwas lag. Die Wüste verschlang sie ganz einfach, fraß sie bei lebendigem Leibe, so daß die Menschen jeden einzelnen Augenblick fühlen und begreifen konnten.
Ein Meer gebrochener Blicke schien Cendrine vorwurfsvoll zu fixieren. Sieh, was ihr getan habt, klagten die Toten, sieh her, und erkenne deine Schuld! Sie hörte die Stimmen wie Erinnerungen aus ihrer eigenen Vergangenheit, verschwommen und undeutlich.
Wenn sie noch länger auf die Leichen im Sand starrte, würden sie
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