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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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sie in ihren Visionen heimsuchen, schlimmer noch, sie würden sie zu sich herabziehen. Cendrine würde den Untergang der Herero miterleben, würde eine von ihnen sein, im verzweifelten Kampf gegen den Schlamm und den Irrsinn.
    Sie wehrte sich dagegen, wehrte sich mit all ihrer Kraft, doch sie wußte, daß sie nicht die Spur einer Chance hatte. Sie hatte geglaubt, die Visionen und Träume beherrschen zu können, doch jetzt wurde sie eines Besseren belehrt.
    Um sie herum erwachten die Herero zum Leben. Halb versunkene Körper schwankten träge vor und zurück, ein schwerfälliger Tanz sich wiegender Leiber, kraftloser Arme, zuckender Finger. Kiefer öffneten sich, lahm und behäbig; aus einem Mund kroch ein Skorpion, stemmte sich zwischen ausgedörrten Lippen hervor wie eine hornverkrustete Zunge. Augen, gelbstichig und blind, wandten sich ihr zu, die leeren Blicke vorwurfsvoll. Kinder und Neugeborene streckten sich im Sand, die Münder zu stummen Schreien aufgerissen. Ein Ochse, dessen Beine im Boden verschwunden waren, begann zu toben, warf sich lautlos hin und her, verrenkte den Kopf, hatte Schaum vor dem Maul; Sternenlicht brach sich auf seinen Hörnern wie der Schein der Feuergruben auf dem Kopfschmuck des Leibhaftigen. Schon erfüllte der gehörnte Schädel ihr ganzes Sichtfeld, starrte sie durchdringend an und formte mit trockener Kehle fremdartige Laute. Silben, die zu Worten wurden, Worten in einer Sprache, die nicht von dieser Welt war, scharf und zischend.
    Die Erzählung des alten Pfarrers sprang ihr ins Gedächtnis, die Begegnung Jesu mit dem Versucher, tief in der Wüste, abgeschnitten vom Rest der Welt. Und zugleich sah sie, wie die beiden Hörner auf sie zukamen, mit einemmal vielfach geschwungen, nadelspitz und mit dem Blut der Toten besudelt.
    Adrian, dachte sie flehend, warum hilfst du mir nicht?
    In all den Wochen hatte sie oft an ihn gedacht, aber niemals versucht, in Kontakt mit ihm zu treten. Manchmal, nachts im Dunkeln, hatte sie das Gefühl gehabt, er sei auf der Suche nach ihr, nicht weit entfernt und doch niemals nah genug, ein Schemen am Rande ihrer Wahrnehmung. Trotzdem hatte sie die Hand, die er ihr entgegenstreckte, nicht ergriffen, teils, weil sie nicht wirklich daran glaubte, teils auch, weil sie ihn nicht noch tiefer in diese Sache hineinziehen wollte.
    Jetzt aber rief sie seinen Namen, rief ihn immer wieder und wieder, und dann, als sie schon spürte, wie die Leichenhände der Herero an ihren Beinen emporklommen und ihr der gehörnte Schädel unverständliche Lockungen ins Ohr flüsterte, da endlich bekam sie eine Antwort.
    Ich bin hier, sagte Adrian unendlich weit entfernt. Ich bin bei dir.
    Sogar Cendrines Gedankenstimme klang schrill. Hilf mir!
    Eine Weile lang herrschte Schweigen, dann sagte er: Nimm dich in acht, Cendrine.
    Sie sind hier. Die Toten. Und Er.
    Sie sind nicht wirklich. Nur Ausgeburten … – die Stimme verschwand, kehrte erst Sekunden später wieder – … Träume …
    Aber ich kann sie spüren. Fühle sie. Rieche sie. Kann sie hören.
    Nimm dich in acht, sagte Adrian wieder, immer leiser und fast unverständlich.
    Aber wenn es nur Träume sind – Nicht vor den Träumen, überlagerten seine Worte die ihren. Nicht vor den – Und wieder verklang seine Stimme im Nichts.
    Vor wem, Adrian?
    Schweigen.
    Vor wem?
    Die anhaltende Stille wurde fast schmerzhaft in ihrer Intensität, sie vertrieb das Flüstern des Gehörnten. Die Klauen der Toten verharrten an Cendrines Hüften, kletterten nicht mehr höher.
    Adrian blieb stumm, und Cendrine glaubte schon nicht mehr daran, daß er überhaupt zu ihr gesprochen hatte. Wunschdenken, geboren aus Verzweiflung und Panik. Der Abgesang ihrer Vernunft.
    Dann aber kehrten die Laute zurück, fremde Laute, Töne, Silben. Eine Stimme – nicht die von Adrian – brach wie ein Orkan über sie herein, schüttelte ihren Geist und bestürmte sie aus allen Richtungen, erfüllte die Welt der Schamanen und Geister mit ihrem bittenden, flehenden Klang. Es war die fremde Frau, und erneut rief sie Cendrines Namen, schrie ihn wieder und wieder hinaus in die Ebene jenseits der Wirklichkeit.
    Und dann – vielleicht im selben Moment, vielleicht erst viel später – glitt Cendrine aus dem Sattel und wurde von schwarzen Händen zu Boden gezerrt, wehrte sich nicht, sprach nicht, dachte nicht, glitt nur in die Tiefe und sah schwarze Leiber, die sie umringten, sah schwarze Gesichter über ihrem eigenen. Sah Schwärze, atmete Schwärze. Sah das

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