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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Anbranden der Bewußtlosigkeit und verlor sich darin.

KAPITEL 2
    Das Gesicht gehörte keinem Herero, und es war gewiß nicht das eines Toten. Es lächelte auf sie herab, listig, verschmitzt, aber auch mit einem gewissen Maß an Sorge. Es bewegte die Lippen, sprach zu ihr, aber noch war sie nicht bereit, die Worte zu verstehen. Nach einer Weile verschwand das Gesicht, und sie schlief wieder ein. Doch als sie erwachte, war es abermals da, und jetzt konnte sie hören, was es sagte.
    »Weiße Schamanin, Kämpferin wider die Große Schlange, Frau aus der Fremde – wach auf!«
    Sie blinzelte in die Helligkeit jenseits des Gesichts, erkannte weißen Stoff. Eine Zeltplane, durch die gleißendes Sonnenlicht sickerte. Ihr war warm. Endlich wieder warm. Das Zittern hatte aufgehört, und sie wunderte sich über ihre eigene Ruhe.
    Dann erkannte sie den Mann, der sich über sie beugte. Es war, als füllte sich ein Loch in ihrer Erinnerung allmählich mit Substanz. Wenn sie sich nur an seinen Namen erinnern könnte …
    »Qabbo!« entfuhr es ihr.
    Der San nickte und schenkte ihr ein gütiges Lächeln. »Du bist wach. Das ist gut.«
    Sie versuchte den Kopf zu heben und war erstaunt, daß es mühelos gelang. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie durch irgend etwas verletzt worden, einen Unfall oder einen Angriff, aber sie spürte keinerlei Schmerzen. Auch ihre Kraft kehrte zusehends zurück. In ihrem Mund klebte ein seltsamer Geschmack, fremdartig und würzig. Wahrscheinlich hatte Qabbo ihr irgendwelche Kräutertinkturen verabreicht.
    »Wie kommst du –« Sie verstummte, weil ihre Stimme heiser klang, so als hätte sie lange geschrien. Dann begann sie von neuem: »Wie kommst du hierher?«
    Er antwortete mit einer Gegenfrage. »Weißt du denn, wo du bist?«
    »Ich … Wo bin ich, Qabbo?«
    »In einem Lager meiner Leute.«
    »Aber doch nicht in Windhuk?« fragte sie alarmiert.
    »Nein«, erwiderte er sanft und streichelte mit rauhen Fingern ihren Handrücken, »natürlich nicht. Du bist nicht weit von der Stelle entfernt, an der wir dich fanden, lediglich ein Stück weiter östlich. Tiefer in der Wüste.«
    »Die Herero …«
    »Ja«, sagte Qabbo betreten, »wir haben sie gesehen.«
    »Sie lebten. «
    Der San schüttelte den Kopf. »Sie sind alle tot. Wenn sie gestern nacht gelebt haben, dann nur in deinen Gedanken.«
    »In der anderen Welt haben sie gelebt«, sagte sie beharrlich.
    »Etwas hat sie benutzt, um dir angst zu machen.«
    »Der Versucher«, entfuhr es ihr, ohne nachzudenken. Gleich darauf kam sie sich kindisch vor.
    »Wie auch immer du ihn nennen magst.« Qabbo zupfte nachdenklich an der Haut, die sich über seinem Adamsapfel spannte.
    »Was ist er?« fragte sie. »Der Teufel?«
    »Ihr Weißen sprecht immer von eurem Gott und eurem Teufel. Entweder gebt ihr dem einen die Schuld oder dem anderen. Dabei ist die Unterscheidung sinnlos. Alles Göttliche ist eins, die vollkommene Vereinigung von Gut und Böse. Nur deshalb ist es göttlich.«
    Ihr war im Augenblick beileibe nicht danach, mit ihm über solche Dinge zu philosophieren. Die Erinnerung an die Erscheinungen war noch frisch, und mit den Stunden, die vergangen waren, war auch die Erkenntnis zwingender geworden, daß es sich tatsächlich nur um Visionen gehandelt hatte, nicht um Abbilder der Wirklichkeit.
    »Ich dachte, du wärest klüger«, sagte Qabbo unvermittelt.
    »Liest du schon wieder meine Gedanken?« fragte sie ohne Zorn. Auch ihre Wut hätte nichts daran ändern können.
    »Es sind weit mehr als nur Visionen, das weißt du«, sagte er, ohne ihre Frage zu beachten. »Es liegt große Wahrheit in dem, was die Schamanen sehen.«
    »Mag sein. Aber ich bin kein Schamane wie du. Vielleicht habe ich einige dieser … Fähigkeiten, aber ich bin anders als ihr.«
    »Gewiß«, pflichtete er ihr bei. »Du bist tausendmal mächtiger als ich oder jeder andere der Weisen.«
    »Unsinn.«
    »Wenn noch ein letzter Beweis nötig war, dann war es das, was dir dort draußen zwischen den Leichen der Herero widerfahren ist. Das, was dir erschienen ist.«
    »Woher weißt du davon? Habe ich im Schlaf gesprochen?«
    Er lächelte. »Du hast ein Wesen mit Hörnern gesehen.«
    »Einen Ochsen«, gab sie trotzig zurück.
    »Du weißt genau, daß es kein Ochse war.«
    »Und wenn schon, was beweist das?«
    »Du siehst Bilder des Göttlichen. Dein Gott – oder eine seiner Facetten – hat sich dir offenbart. Wir Schamanen mögen Hinweise auf die Götter sehen, wir empfangen ihre Botschaften,

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