Göttin der Wüste
Zeremonie vergangen. Sie war nicht schläfrig, nicht einmal müde, weil die Trance selbst wie ein Dämmerschlaf war, der ihr die nötige Kraft verlieh und sie trotzdem die Dinge um sich herum wahrnehmen ließ.
Sie ließ beinahe willenlos alles über sich ergehen, widersprach auch nicht, als Qabbo sie aufforderte, aufzustehen und unweit des Lagers in einer Senke zwischen zwei Dünen ein Loch zu graben. Der Sand war weich und locker, und sie schaufelte ihn mit bloßen Händen beiseite. Schließlich, als das Loch groß genug war, befahl Qabbo ihr, sich mit angezogenen Knien hineinzukauern. Die Vertiefung war annähernd rund und maß im Durchmesser und in der Tiefe etwa anderthalb Meter. Später, als Cendrine wieder klar denken konnte, wurde ihr bewußt, daß sie wahrscheinlich Stunden benötigt hatte, um mit den Händen ein solches Loch auszuheben, zumal der Sand so leicht war, daß immer wieder ganze Lawinen vom Rand zurück in die Grube rutschten.
Im Hintergrund schlug einer der Weisen auf eine Trommel, während Cendrine ergeben in dem Loch hockte und wartete, was weiter geschah. Ein Schamane zog mit weißer Asche einen Kreis um die Öffnung und träufelte ein übelriechendes Öl auf Cendrines Stirn. Dann knieten sich alle Männer hin und schaufelten den Sand zurück in das Loch, begruben Cendrine bei lebendigem Leibe, bis nur noch ihr Kopf hervorschaute. Sie spürte keine Angst, nicht einmal, als durch die trüben Vorhänge ihrer Trance die Erkenntnis drang, daß sie außer Augen und Mund nichts bewegen konnte. Sie war jetzt eins mit der Wüste und fühlte, wie die Wärme des aufgeheizten Sandes ihren Körper durchdrang.
Während ihrer Reise von Windhuk zur Skelettküste, irgendwo in den Weiten des Kaokovelds, hatte einer ihrer San-Begleiter sie gewarnt, Sand vom Boden aufzuheben – man wisse nie, was man da in die Hand nähme. Später, als sie Skorpione und Schlangen, Spinnen und haarige Taranteln am Boden umherhuschen sah, war ihr klargeworden, was der Mann gemeint hatte. Jetzt aber, da sie im Sand begraben war, empfand sie große Ruhe. Eine innere Stimme sagte ihr, daß es kein Wüstenwesen gab, vor dem sie Angst haben mußte. Kein Tier wünschte ihr ein Leid, keines würde je wieder Opfer oder Feind in ihr sehen.
Sie blieb den Tag über im Sand, ganz allein, denn die Weisen hatten sich zurückgezogen und schliefen in ihren Zehen. Die Hitze war entsetzlich, gegen Mittag sogar schmerzhaft, dennoch konnte sie Cendrine nichts anhaben. Aasvögel kreisten am Himmel, doch immer dann, wenn sie nahe genug herankamen, um ihre Beute zu erkennen, machten sie kehrt und flogen davon.
Lange nach Einbruch der Dunkelheit, als die Wärme längst zur Kälte geworden war und die Sterne am Nachthimmel glänzten, kehrten die Schamanen zurück und gruben sie aus. Cendrine hatte das Gefühl, den ganzen Tag halluziniert zu haben, aber sie konnte sich an keine Einzelheit erinnern, nur an das vage Gefühl, andere Orte und Wesen gesehen zu haben. In ihrem Mund war ein eigenartiger Geschmack, süß wie Honig, aber zugleich sehr scharf, so als hätte sie auf Pfefferkörner gebissen.
Man flößte ihr Tränke ein und gab ihr einen zähen Brei zu essen, der nach nichts schmeckte. Man rieb ihr zerstoßene Kräuter auf die Augenlider, sang leise Lieder in ihre Ohren und bürstete ihr Haar mit etwas, das aussah wie eine pechschwarze Fischgräte.
Schließlich, als die Nacht sich wieder zum Morgen neigte, setzte Qabbo sich ihr im Feuerschein gegenüber, schlug die Beine unter und gebot ihr, es genauso zu machen. Noch immer spürte sie keinerlei Zweifel oder Angst, und es war, als hätte sie gänzlich verlernt, Fragen zu stellen.
»Die andere Welt ist so wirklich wie die unsere«, sagte er, während am Rande des Lichtkreises die übrigen Weisen in stumme Andacht verfielen. »Manchmal ist sie sogar wirklicher, wenigstens für Menschen wie uns, die den Übergang von der einen in die andere Ebene bewußt erleben und um die Gefahren wissen. Du wirst die andere Welt mit deinen eigenen Augen sehen. Nicht mit den Fühlern, die dein Geist ausstreckt, sondern mit den Augen deines Körpers.« Er massierte seine Lider mit Daumen und Zeigefinger, als wollte er damit die Worte unterstreichen. »Aber du mußt auch wissen, daß es keine Landkarten oder Wegweiser in dieser anderen Welt gibt. Du selbst mußt lernen, die richtige Richtung einzuschlagen, und weder ich noch irgendein anderer kann dich von dort zurückholen, wenn du unterwegs verlorengehst. Auch
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