Göttin der Wüste
drauf und dran, ihn am Kragen seines plumpen Leinenhemdes zu packen und durchzuschütteln. Aber sie beherrschte sich mühsam, wandte sich vielmehr ab und starrte finster durch den Spalt zwischen den Zeltplanen. Dort draußen war nichts als weißglühende Sanddünen.
»Du besitzt den bösen Blick, Cendrine, ebenso wie die Kraft des Schauens. Die Dinge sprechen zu dir, wenn du sie lange genug ansiehst und versuchst, sie zu dir sprechen zu lassen. Du gibst den Dingen eine Stimme. Die wenigsten von uns vermögen das, schon gar nicht in diesem Ausmaß.«
»Aber warum ich?« fragte sie.
»Diese Frage ist deiner nicht würdig.«
»Gib mir trotzdem eine Antwort.«
Qabbo schien zu überlegen. »Es gab andere«, sagte er. »Andere wie dich, wenn auch nur mit einem Bruchteil deiner Macht. Der Bruder des weißen Priesters von Windhuk war einer. Adrian Kaskaden war ein anderer. Beide gingen uns verloren. Das waren große Verluste.«
Haupts Bruder war tot, soviel wußte sie. Ein Unfall, hatte der Pfarrer gesagt. Und was Adrian anging – nun, sie wußte selbst nicht, was sie darüber denken sollte. Sie wußte nur, was sie für ihn empfand. Je länger sie von ihm getrennt, und je größer die Distanz zwischen ihnen war, desto näher fühlte sie sich ihm.
»Aber diese beiden und ich, wir sind Weiße. Wir sollten nicht so sein wie ihr. Es ist … falsch.«
»Nein, das ist es gewiß nicht. Nur ungewohnt. Die Macht kann in jedem sein. Und vielleicht war es nicht einmal ein Zufall, daß ihr aus eurer Heimat hierhergekommen seid. Das Land hat euch gefunden, nicht ihr das Land.«
Es war sinnlos, Gegenargumente zu suchen. Qabbo würde auf alles eine Antwort wissen.
Als sie zögerte, fuhr der San fort: »Die Große Schlange ist auf dem Weg nach Westen zum Rand der Wüste – und darüber hinaus. Es zieht sie in die Auasberge, Cendrine. Du weißt, wohin.«
»Zu den Kaskadens? Aber warum?«
»Du hast das Haus gesehen, die Steine, aus denen es erbaut wurde. Und du ahnst, was sie bedeuten.«
»Selkirk hat sie aus der Wüste mitgebracht.«
Qabbo nickte. »Sie ziehen die Große Schlange an. Das haben sie schon einmal getan. Sie zapfen die Lebenskraft derer an, die zwischen ihnen wandeln, und irgendwann kann die Große Schlange sie spüren, und sie weiß, wohin sie zu gehen hat.«
»Ist das deine einzige Erklärung?«
»Du wirst mehr darüber erfahren, wenn du dich nicht länger gegen die Wahrheit sperrst. Wenn du bereit bist, zu lernen. Du bist eine Lehrerin, Cendrine. Ab heute aber mußt du wieder Schülerin sein. Du mußt versuchen, zu verstehen … mußt dich öffnen!«
Sie dachte an Salome und Lucrecia, die ihr ans Herz gewachsen waren wie eigene Kinder. Dachte an Madeleine, die gestrenge, undurchsichtige Madeleine, die sie an manchen Tagen gehaßt, an anderen ob ihrer Stärke bewundert hatte. Dachte auch an Titus und an all die übrigen Menschen, die das Haus bevölkerten. Vor allem aber sah sie Adrian vor sich, der nichts mit den Ohren, aber alles mit dem Geist hören konnte.
Was immer sich hinter dieser Gefahr verbarg, die Qabbos Worte heraufbeschworen, sie durfte nicht zulassen, daß einem von ihnen Leid geschah. Nur zu gut erinnerte sie sich an Adrians Erzählung vom Wirbelsturm, der um das Anwesen getobt hatte, während Lord Selkirk seine Frau und seine Töchter zerstückelte. Die Ereignisse von damals durften sich nicht wiederholen.
»Was verlangst du? Was soll ich tun?« fragte sie und drehte sich wieder zu Qabbo um, der sie unverwandt ansah.
»Bisher hast du nur deine Welt gesehen, Cendrine. Nun stell dich darauf ein, auch die andere zu entdecken.«
»Aber das habe ich. Ich war dort, mehr als einmal.«
»Nicht wirklich. Nur im Geiste. Jetzt aber wird dein Körper deinen Gedanken folgen. Und dann, wenn du zurückkehrst, wirst du bereit sein.«
»Bereit wofür, Qabbo? Für die Große Schlange?«
»Bereit, zu überleben. Bereit, andere überleben zu lassen.« Er legte den Kopf schräg und lächelte. »Bereit für dieses Land, Cendrine. Bereit dafür, eine von uns zu sein.«
***
Die Zeremonie begann am frühen Abend, Stunden nachdem Qabbo sie allein im Zelt zurückgelassen hatte. »Ruh dich aus«, hatte er gesagt. »Du wirst alle Kraft brauchen, die in dir steckt.«
Jetzt war Qabbo zurückgekehrt und führte sie ins Freie. Zum erstenmal sah sie das Lager: fünf Zelte, die von den San in einer weiten Kreisform errichtet worden waren. Die Eingänge lagen nach außen, der Wüste zugewandt. Im Zentrum des Kreises
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