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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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beobachtet hatte.
    Der Himmel wurde von neun schwarzen Gesichtern verdrängt. Qabbo und die anderen beugten sich über sie, redeten auf sie ein.
    Es dauerte eine Weile, ehe sie durch das Kauderwelsch der Khoi-Laute Qabbos Stimme vernahm.
    »Du warst zwei Tage und zwei Nächte fort«, sagte er und wirkte ungemein erleichtert.
    Verschwommen entsann sie sich seiner früheren Worte: Wenn die Götter dich lieben, wirst du wissen, was war. Aber sie wußte nichts, erinnerte sich nur an das Licht.
    »Die Götter lieben … mich nicht«, brachte sie mühsam hervor, dann versagte ihre Stimme.
    Qabbo lächelte. »Wer so lange in der anderen Welt war wie du und trotzdem heil zurückkehrt, der ist mehr als nur ein Liebling der Götter.« Zärtlich streichelte er ihre Wange wie ein gütiger, stolzer Vater.
    »Endlich bist du bereit, weiße Schamanin. Morgen beginnt unsere Reise in die tiefe Wüste.«
    ***
    An einem Sonntag morgen verbrannte Adrian Selkirks Tagebuch.
    Er saß auf dem kalten Steinboden der Küche, riß Seite um Seite aus dem Buch, zerknüllte sie und warf sie ins Feuer des großen Kamins, in dessen Rückwand eines der archaischen Steinfragmente eingelassen war. Es zeigte das Profil eines Reiters mit seltsamem Kopfschmuck und langem Speer, den er wurfbereit in der Rechten hielt. Der Mann saß auf einem Tier, das nur auf den ersten Blick wie ein Pferd aussah; schaute man genauer hin, erkannte man, daß es sich um einen Hirsch handelte, dessen Geweih nur angedeutet war. Woher hatten die Wüstenbewohner gewußt, wie ein Hirsch aussieht?
    Das dünne Papier der Seiten fing in Windeseile Feuer. Adrian sah zu, wie jede einzelne verbrannte, bevor er die nächste in die Flammen warf. Das Feuer fraß schwarze Wunden in Selkirks engbeschriebene Zeilen, verzehrte seinen Bericht über Henoch und die Massengräber unter den Dünen mit lodernder Gier. Die Vergangenheit zerfiel zu Asche.
    Haupt wäre stolz auf mich, dachte Adrian in einem Anflug von Sarkasmus. Der ehemalige Pfarrer hatte die Aufzeichnungen von Anfang an vernichten wollen, und heute mußte Adrian sich eingestehen, daß er recht gehabt hatte. Dieses Tagebuch hatte nur Schaden angerichtet. Cendrine hätte es nie finden dürfen. Wieder verfluchte er Selkirk, wie er es schon Dutzende Male zuvor getan hatte; für das Blut, das er in diesen Mauern und draußen in der Kalahari vergossen hatte, aber mehr noch für die Brücke, die seine Verbrechen in die Gegenwart schlugen, zu den Kaskadens und zu Cendrine.
    Die Küche war ein hoher Raum mit einer gewölbten Decke. Durch riesige Fenster fiel Tageslicht herein; sie waren so hoch oben in die Mauern eingelassen, daß sie nur mit Hilfe langer Stangen geöffnet werden konnten. Die Wände standen voller Regale, prall gefüllt mit buntlackierten Dosen für Gewürze und Backzutaten, mit Arbeitsutensilien, dem Geschirr für die Bediensteten und allerlei Kleinkram der Köchinnen. In der Mitte des Raumes befand sich ein gewaltiger Tisch, fast fünf Meter lang, auf dessen dicker Holzplatte die Speisen angerichtet wurden.
    Normalerweise arbeiteten hier von morgens bis abends mehrere Frauen – Köchinnen und ihre Gehilfinnen –, außerdem wimmelte es stets von Dienstmädchen, die sich hier vor der Arbeit in den Zimmern und Korridoren drückten.
    Heute aber war die Küche bis auf Adrian verlassen. Genauso wie der Rest des Hauses. Ganz gleich, wohin man sah, welchen Flur man durchstreifte – nirgends war eine Menschenseele zu sehen.
    Vor zwei Tagen hatte ein Großteil der Bediensteten das Haus verlassen. Das Dorf jenseits der Weinberge war wie ausgestorben. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, die zerstörten Hütten wiederaufzubauen. Die Heuschreckenplage hatte weit mehr angerichtet, als nur ein paar Dächer zum Einsturz zu bringen – sie hatte den Aberglauben der Eingeborenen auf eine Art und Weise entfacht, die nicht einmal Adrian mit seinem Einblick in die Kultur der San für möglich gehalten hatte. Alle Legenden, die seit Selkirks Tagen über dieses Tal erzählt wurden, jede Schauermär und jedes finstere Gerücht hatten von neuem die Runde gemacht. Schon nach wenigen Stunden war von niemandem mehr nach der Wahrheit gefragt worden. Für die meisten hatte es schon immer festgestanden, doch jetzt glaubten auch die Zweifler daran: Das Tal der Kaskadens war verflucht, und jedem, der sich im Haus aufhielt, war ein furchtbares Schicksal gewiß.
    Die Bediensteten waren in Scharen fortgezogen, manche gen Windhuk, einige auch nach Süden,

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