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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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wird der Tod dich nicht erlösen, denn niemand stirbt in der anderen Welt – wenigstens nicht so, wie wir sterben –, und deine Wanderschaft in die Irre wird ewig währen. Falls es dir jedoch gelingt, zurückzukehren, ist es möglich, daß du dich an nichts erinnern wirst. Dann wird es sein, als wärest du nie fort gewesen. Aber wenn die Götter dich lieben, dann wirst du wissen, was war, und doch wirst du darüber schweigen müssen, in dieser und jeder anderen Welt.«
    Womöglich redete Qabbo noch weiter, ohne daß Cendrine seine Worte wahrnahm, denn als die Zeremonie fortgesetzt wurde, war bereits der größte Teil des Tages verstrichen und der Höhepunkt der Hitze überschritten.
    Die Weisen hatten erneut mit Asche einen Kreis in den Sand gezeichnet, der etwa einen Männerschritt durchmaß. Jetzt gingen sechs von ihnen daran, eine große graue Haut – wohl die eines Elefanten – in einem Meter Höhe darüber aufzuspannen. Jeder hielt sich mit beiden Händen am Rand fest und lehnte sich mit ganzem Gewicht nach hinten. Bald war die Haut so straff wie eine Tischplatte. Die beiden übrigen Weisen verstreuten nun Hühnerfedern um den Zirkel ihrer Gefährten, und obwohl der Wüstenwind die meisten gleich fortwehte, blieben doch genug davon im Sand liegen, ganz wie es das Ritual erforderte.
    Wieder schwoll das Summen der Männer an, und erneut fiel Cendrine mit ein. Die Elefantenhaut verfärbte sich, so als würde darunter ein Feuer brennen, dessen Flammen sich allmählich hindurchfraßen. Doch die Helligkeit, die sich darauf breitmachte wie kleine Pfützen, kam nicht vom Boden. Sie kam überhaupt nicht aus dieser Welt.
    Schließlich erstrahlte das gesamte Zentrum der Haut in leuchtendem Weiß, wie Sonnenlicht, das sich auf einer Schneedecke spiegelt. Cendrine zwang sich, die Lider offenzuhalten. Geblendet beobachtete sie, was weiter geschah.
    Qabbo hielt plötzlich einen flachen Stein in der Hand, genau wie jene, die Cendrine und Elias früher auf der Oberfläche eines Teiches im Park hatten springen lassen. Als Qabbo ihn in das Licht warf, verschwand der Stein spurlos inmitten der gleißenden Helligkeit. Cendrine schaute verstohlen unter die Haut, aber er fiel auch nicht darunter zu Boden. Er war tatsächlich fort.
    »Jetzt ist die Reihe an dir«, sagte Qabbo an sie gewandt. »Steig hindurch, und du gelangst in die andere Welt.«
    Sie zögerte nicht, dafür war in ihren Gedanken kein Platz. Die wundersame Trance, die sie nun schon seit zwei Tagen in ihrem Griff hielt, betäubte jeden Widerspruch, jede zaghafte Gegenwehr.
    Entschlossen trat sie zwischen zwei der Weisen, die die Haut gespannt hielten, dann hob sie ein Bein und durchstieß damit das Licht. Ein Hauch von Kälte kroch an ihrer Wade empor, sonst spürte sie keine Veränderung. Sogleich zog sie das andere Bein hinterher, hielt noch einen Augenblick inne, dann sprang sie in die Helligkeit.
    Wenn das, was sie erlebte, wirklich nichts anderes war als eine Ausgeburt ihrer Phantasie, bunte Traumgespinste, die irgendwelche Kräuter oder berauschenden Flüssigkeiten in ihr Hirn projizierten, dann waren sie fraglos so wirklichkeitsnah wie jeder andere Augenblick in ihrem bisherigen Leben.
    Sie stürzte in einen Abgrund aus Licht. Die Helligkeit schien aus der Tiefe nach ihr zu greifen, so wie eine Flamme nach der Motte leckt. Aber das Licht verbrannte sie nicht. Die Kälte, die sie schon am Bein gespürt hatte, umhüllte jetzt ihren ganzen Körper.
    Dann, während sie noch immer fiel, entdeckte sie, daß sie unsichtbar geworden war, daß sie eins war mit den Lichtbündeln dieses endlosen Abgrunds, nur ein grellweißer Funke unter Myriaden anderer, ein Blitz, der aus unbeschreiblichen Höhen in eine Ungewisse Tiefe raste.
    Ganz kurz war ihr, als ende der Lichttunnel und ginge in eine Ebene über, eine ockerfarbene Landschaft, durch die eine Herde Gazellen zog, so viele, daß sie den Horizont zum Beben brachten. Doch der Eindruck verblaßte, und sie war zurück im freien Fall, stürzte weiter, tiefer und immer noch schneller.
    Schließlich, ganz abrupt, war ihr, als durchstoße sie eine Membran. Das Licht zerbarst wie ein gewaltiger Spiegel, gleißende Splitter spritzten auseinander, und Cendrine prallte hart in den Sand.
    Als sie aufblickte, war über ihr Finsternis. Einige der Lichtsplitter funkelten noch immer in der Dunkelheit, und als Cendrine sie genauer betrachtete, erkannte sie ein Sternbild, das sie auch von ihrem Erkerfenster im Haus der Kaskadens aus

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