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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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vorzudringen. Denn ein weiteres Hindernis war der Verlauf der Grenze zu Britisch-Betschuanaland; sie durfte von den Beobachtern nicht übertreten werden, wollte man nicht einen Konflikt mit der benachbarten englischen Kolonialmacht heraufbeschwören.
    Wäre das Netz der Nachrichtenübermittlung in Südwest besser gewesen, hätte man vielleicht Vorkehrungen treffen können. So aber blieb vieles im Ungewissen. Was war wirklich draußen in der Wüste geschehen? Würden noch andere Tiere die Flucht ergreifen? Und wenn es eine Seuche war, bestand dann Gefahr für die Menschen?
    Adrian lief an den Ställen vorbei zur Vorderseite des Hauses. Die Gärten waren noch immer völlig verwüstet, ebenso die Reihen der Weinreben. Schon unter normalen Umständen, mit kompletter Dienerschaft und allen Arbeitern, hätte es Monate gedauert, das gesamte Anwesen wieder in seinen früheren Zustand zu versetzen. So aber wagte niemand, auch nur vage Vorhersagen zu treffen, wann die Dinge wieder ihren gewohnten Gang nehmen würden.
    ***
    Am Abend begann die Erde zu beben.
    Erst zitterte das Geschirr in den Schränken, und in der Galerie polterte ein Regalbrett mit elf Jahrgängen kartographischer Mappen auf den Boden. Im Musikzimmer fiel die Klappe des Flügels zu, in der Küche schepperten die Töpfe wie ein verstimmtes Glockenspiel, und in Selkirks altem Arbeitszimmer stürzte der große Globus gegen das Fensterbrett; die Weltkugel löste sich aus ihrer Verankerung, rollte lärmend durch die Tür den Gang hinunter und fing sich erst im Eingang des Schulzimmers. Eine bronzene Hermesstatue kippte gegen das Fenster in Madeleines Boudoir und zerbrach klirrend die Scheibe, während in den Ställen lautstark die Pferde tobten.
    Die Familie wurde im Speisezimmer von den Ereignissen überrascht.
    »Ein Erdbeben«, entfuhr es Madeleine voller Schrecken, und sie legte die Arme um Salome und Lucrecia. Die Mädchen kuschelten sich ängstlich an sie.
    »Nein«, widersprach Titus und sah hinauf zum schaukelnden Kronleuchter. »Das ist etwas anderes.«
    Alle sahen ihn verwundert an, nur Adrian sprang mit zwei Sätzen ans Fenster und blickte hinaus in die Abenddämmerung. Sekundenlang brachte er kein Wort heraus.
    »Seht euch das an«, preßte er schließlich hervor.
    Sofort stand Titus neben ihm, nur Madeleine blieb zurück, um den Zwillingen den Anblick zu ersparen.
    Das Fenster des Speiseraums wies über den Kieshof hinweg nach Westen. Mühsam waren im Dunkeln noch das Torhaus und die Gartenmauer zu erkennen, dahinter versank das Tal in Finsternis. Aber es war nicht allein das Dämmerlicht, das die Landschaft in Dunkelheit tauchte.
    Es waren Gazellen. Hunderttausende Gazellen, die, vermutlich von Osten kommend, durch das Tal preschten, im Norden und Süden Bögen um das Haus schlugen und sich an seiner Westseite wieder zu einem breiten Strom vereinigten, so schnell, daß die einzelnen Tiere kaum mehr auszumachen waren, nur eine dahingaloppierende Masse panischer Leiber. Zwischen ihnen huschten blitzartig schlanke Schatten umher, Geparden, zu verstört, um sich unter den Gazellen Beute zu suchen.
    Über zehn Minuten dauerte es, bis der erste Ansturm verebbte. Dann folgten, wenn auch vereinzelter, Zebras und Giraffen, Antilopen, kleine Büffelherden und immer wieder Raubkatzen, die in solcher Panik nach Westen hetzten, daß keines der anderen Tiere ihre Fangzähne fürchten mußte. Die Eintracht, zu der die Angst die verfeindeten Geschöpfe zusammenschweißte, war gespenstisch.
    Später im Bett, während der Strom der fliehenden Tiere vor den Fenstern noch immer nicht abriß, gelang es Adrian zum erstenmal, Kontakt zu Cendrine herzustellen. Er versuchte, sie vor Qabbo und den anderen Weisen der San zu warnen, war aber nicht sicher, ob sie ihn verstanden hatte. Der Kontakt brach schon nach kurzer Zeit ab.
    Als endlich der Tag anbrach, stand er grübelnd am Westfenster der Galerie und sah zu, wie sich immer neue Tierherden über die Hänge ergossen und vor etwas davonliefen, das so unaufhaltsam war wie die Sonne, die hinter ihnen zwischen den Bergen emporstieg.

KAPITEL 3
    Die Wüste hatte sich verändert. Es war keine Wandlung, die mit den Augen wahrzunehmen war, vielmehr ein Gefühl, etwas, das Cendrine immer dann überkam, wenn sie ihren Blick in die Ferne richtete und über die Dünen gen Osten schaute.
    Erst nach drei Reisetagen an Qabbos Seite wurde ihr klar, daß nicht die Wüste die Veränderung durchgemacht hatte, sondern sie selbst. Die Art und

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