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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Boden gestampft.
    Es tat weh, mitanzusehen, wie sein Zuhause zerstört wurde, aber das war nicht seine größte Sorge. Er hatte versucht, seinen Geist in die Welt der Schamanen zu schicken, aber auch dort gab es keine Hinweise auf das, was die Tiere aus dem Osten verjagt hatte. Was für eine Witterung hatten sie aufgenommen, daß sie in derartige Panik verfielen? Die Antwort war niemals fern, aber doch kam er nicht nah genug an sie heran, um die Wahrheit zu erkennen. Die Ebene der Geister war erfüllt von den unheimlichen Signalen, die Cendrine nach Osten riefen, und sie übertönten alles andere. Selbst die Weisen der San mußten Mühe haben, sich zurechtzufinden. Wie also sollte da er, Adrian, erkennen, was geschehen war und – viel wichtiger – was noch geschehen würde?
    Am Mittag des vorherigen Tages, gleich nachdem die Büffel das Tal passiert hatten, war er nach Windhuk geritten, gegen den ausdrücklichen Wunsch seiner Eltern. Sie hatten seit Wochen nichts mehr von Valerian gehört, wußten nur, daß es in der Omaheke zu Kämpfen gekommen war; jetzt fürchteten sie, auch noch Adrian zu verlieren.
    Doch Adrian war während seines Ritts keinem wilden Tier begegnet, das ihm hätte gefährlich werden können. Die schnellen Raubkatzen waren unter der ersten Welle von Flüchtenden gewesen, die nach Westen geströmt war, und alle, die jetzt noch durch die Täler der Auasberge und über die Hochebene von Windhuk tobten, waren viel zu sehr mit ihrer eigenen Angst beschäftigt, als daß sie einen Reiter auf seinem Pferd angegriffen hätten.
    Der Boden war durchpflügt von Millionen von Hufen, Pfoten und Krallen. Das Savannengras, das einst die Hänge bedeckt hatte, war schon den Heuschrecken zum Opfer gefallen, aber jetzt war auch der Sand darunter aufgewühlt und von tiefen Furchen durchzogen. In den Senken sahen die Stämme der Akazien aus, als hätte man sie mit Feile und Schmirgelpapier bearbeitet. Die Abgrenzungen des Weges, der vom Tal aus nach Windhuk führte, waren nicht mehr zu erkennen. Ein einsamer Wegweiser an einer Abzweigung war abgeknickt wie ein Grashalm; der armdicke Holzstamm war kurz über dem Boden zerborsten, Bruchstücke lagen in weitem Umkreis verstreut.
    Als Adrian die Ausläufer der Berge verließ und über die Ebene nach Windhuk blickte, erkannte er, daß es besser um die Stadt stand, als er befürchtet hatte. Viele Tiere mußten instinktiv einen Bogen um die Häuser gemacht haben. Sie hatten sich über das freie Land im Norden und Süden gewälzt, die Felder verheert und – soweit Adrian dies aus der Ferne erkennen konnte – Teile der Eingeborenensiedlung am Stadtrand niedergetrampelt.
    Von einem Vertreter des Gouverneurs erfuhr er bald darauf, daß ähnliche Vorfälle aus so weit entfernten Orten wie Omaruru im Norden und Gibeon im Süden gemeldet worden waren. Die anfänglichen Vermutungen waren weit übertroffen worden: Fast fünfhundert Kilometer breit war der Streifen der Verwüstung, der aus den Weiten der Kalahari bis in die westlichen Gebiete des Landes reichte.
    Und noch etwas zeichnete sich ab. Bisher waren es nur Ahnungen, zusammengestückelte Nachrichten, die aus den Küstenregionen nach Windhuk drangen. Und doch gab es kaum Zweifel, daß sich die Befürchtungen als wahr erweisen würden: Die Tiere stürzten sich in ihrer Verzweiflung ins Meer.
    Blind vor Panik hielten die gigantischen Herden auf den offenen Atlantik zu, die ersten hatten ihn bereits vor zwei Tagen erreicht. Eine Flut von Gazellen hatte sich ins Wasser ergossen. Die vorderen waren von den hinteren weitergedrängt worden, waren über Klippen und Wüstenstrände in den Tod geschoben worden. Schon jetzt war die Küste übersät mit angetriebenen Kadavern.
    Was immer es war, das die Tiere ins Verderben trieb, es schien mit den Winterstürmen von Osten heranzutreiben. Tatsächlich waren die Winde stärker denn je, und jetzt, einen Tag nach seiner Rückkehr aus Windhuk, fragte sich Adrian, ob die Bedrohung, auf die sie alle warteten, nicht schon längst unter ihnen war, unsichtbar, ohne Geruch und ohne Geschmack. Keine Seuche, keine winzigen Krankheitserreger, sondern etwas, das in den Köpfen der Menschen umging.
    Was, wenn es in Wahrheit die Ungewißheit und die Angst waren, die sie alle zur Verzweiflung brachten? Wenn der Irrsinn, der sich langsam breitmachte, viel schlimmer war als alles, was ihm aus der Wüste folgen mochte?
    ***
    Lucrecia packte Salome bei der Hand und zog sie mit sich den Korridor

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