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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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standen sich gegenüber wie zwei Kampfhähne, bereit, jeden Augenblick aufeinander loszugehen. Es kam selten vor, daß sie miteinander rauften, meist regelten sie Streitigkeiten durch wüste Beschimpfungen.
    »Wir müssen damit aufhören«, sagte Lucrecia plötzlich.
    Salome zögerte einen Moment, dann nickte sie und trat auf ihre Schwester zu. »Tut mir leid.«
    »Ja, mir auch.«
    »Und jetzt?«
    »Verstecken wir uns.«
    »Sollten wir nicht Mutter Bescheid sagen?« fragte Salome. »Oder wenigstens Adrian?«
    »Dann ist es ja kein Versteck mehr.«
    »Aber wir verstecken uns doch nicht vor Mutter.« Und etwas leiser fügte Salome hinzu: »Oder?«
    Lucrecia gab keine Antwort und lief weiter die Treppe hinauf und dann den Korridor entlang. Es war sehr düster hier oben, nur durch einige der halboffenen Zimmertüren fiel schwaches Licht. Wenn Johannes und die Köchin hier heraufkamen, trugen sie Kerzenleuchter mit sich; es war unnötig, den ganzen Tag über die Lampen brennen zu lassen.
    Die Luft roch abgestanden und staubig. Salome geriet von der Lauferei außer Atem, und auch Lucrecia schnaufte angestrengt. Allmählich erkannte Salome, wohin ihre Schwester sie führte. Sie hatten den Ort entdeckt, als sie noch kleiner waren – fünf oder sechs –, und sie waren seit Jahren nicht mehr dort gewesen. Aber vielleicht hatte Lucrecia recht: Ein besseres Versteck gab es nirgendwo im ganzen Haus.
    Kurz vor Johannes’ Zimmer am Ende des Korridors bogen sie in einen anderen Gang, der vom ersten abzweigte. Hier war es noch dunkler, die umliegenden Zimmer waren verriegelt. Nur durch die Schlitze unter den Türen fiel ein Hauch von Licht.
    Der Flur endete vor einem geschlossenen Durchgang. Der Schlüssel steckte. Lucrecia zerrte und ruckte daran herum, bis er sich endlich drehen ließ. Das Schloß gab nach, und die Tür schwang leise nach innen.
    Dahinter lag ein gewaltiger Speicherraum. Er bildete den Dachboden des Haupttrakts und war bis auf einige dick verstaubte Kisten im vorderen Teil leer. Ein paar uralte Wäscheleinen, noch aus der Zeit der Selkirks, spannten sich im Gebälk. Über den Köpfen der Mädchen vereinigten sich die Dachschrägen zu einem spitzen Giebel. Finsternis hing zwischen den Balken des Dachstuhls. Lautlos gerieten einige Spinnweben in Bewegung, als die Zwillinge eintraten. Salome fürchtete sich, aber noch waren sie nicht am Ziel. Lucrecia schob hinter ihr die Tür ins Schloß.
    Hohl hallten ihre Schritte, als sie den langen Raum durchquerten, immer darauf bedacht, nicht zu lange in die umliegenden Schatten zu blicken. Am Ende des Speichers befand sich eine weitere Tür, unverschlossen. Dahinter zweigte in westlicher Richtung der Dachboden des Südflügels ab, dreißig Meter von einem Ende zum anderen. Hier gab es auf beiden Seiten zwei winzige Dachluken, so schmutzig, daß kaum Licht hindurchfiel.
    Die Schwestern liefen jetzt wieder Hand in Hand, als könnte sie das vor den Geistern beschützen, die im Dunkeln auf der Lauer lagen. In der Holzwand am Ende des Speichers schimmerte ein Rechteck aus Fugen. Salome bezweifelte, daß irgendwer außer ihnen von der Geheimtür wußte.
    Die Scharniere waren eingerostet und von Grünspan überzogen, doch als die Mädchen gemeinsam gegen die Tür drückten, lockerten sich die Bolzen. Knirschend öffnete sich der Durchgang und gab den Blick frei auf eine kleine Kammer. Sie war kaum fünf Meter tief und angefüllt mit sonderbaren Steinquadern, klobigen Blöcken, die mit Reliefen überzogen waren, manche mit verschlungenen Mustern, andere mit Darstellungen von Menschen und Tieren. Man hatte sie hier eingelagert und vergessen.
    Die Mädchen schlossen die Tür hinter sich und schauten sich um. Durch zwei Dachluken mit verschmierten Scheiben fielen graue Lichtsäulen, in denen wirbelnd die Staubpartikel tanzten. Salome ekelte sich vor den vielen Spinnweben – und mehr noch vor ihren ausgehungerten Bewohnerinnen –, aber sie mußte Lucrecia zugestehen, daß dies tatsächlich ein hervorragendes Versteck war. Sie selbst hatte beinahe vergessen gehabt, daß diese Kammer überhaupt existierte.
    »Wie lange sollen wir hier oben bleiben?« fragte sie und schaute prüfend hinter einen Stapel Steine, fast doppelt so hoch wie sie selbst.
    »Weiß nicht«, gestand Lucrecia. »Bis die Gefahr vorüber ist, schätze ich.«
    »Und woher sollen wir wissen, wann es soweit ist?«
    Irgendwo in den Tiefen des Hauses erklang ein gedämpftes Krachen. Möglicherweise eine Tür, die im

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