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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Durchzug zugefallen war. Die Zwillinge wechselten einen beunruhigten Blick, Salomes Frage war schlagartig vergessen. Jetzt waren beide froh, daß sie hier waren und nicht in irgendeinem anderen Teil des Anwesens.
    »Vielleicht sollten wir versuchen, die Fenster sauberzumachen«, schlug Salome flüsternd vor. »Wir hätten dann mehr Licht.«
    Lucrecia nickte und wollte etwas sagen, doch im gleichen Moment ertönte das Krachen ein zweites Mal. Dann, bevor eine von beiden einen klaren Gedanken fassen konnte, wurden plötzlich noch andere Geräusche laut. Die Zwillinge sprangen aufeinander zu und hielten sich umklammert. Ihre Blicke wanderten angsterfüllt zur schwarzen Balkendecke.
    Ein zögerndes Tapsen. Über ihnen, auf dem Dach. Etwas schabte über die Ziegel.
    »Ein Vogel«, wisperte Salome, aber sie glaubte selbst nicht daran.
    »Pst«, machte Lucrecia.
    Angespannt horchten sie in die Dunkelheit. Das Tapsen kam näher. Jetzt wiederholte es sich auch an anderen Stellen des Daches. Falls es wirklich Vögel waren, mußten sie sehr, sehr groß sein.
    Lucrecia löste sich von ihrer Schwester und kletterte auf einen Stein, der neben ein paar anderen lag, die treppenförmig übereinandergeschichtet waren.
    »Was machst du?« zischte Salome alarmiert.
    Lucrecia ließ sich nicht beirren und klomm weiter an den Blöcken empor. Dichte Staubwolken wirbelten auf. »Ich will aus der Dachluke schauen.« Die Scheibe befand sich genau über dem höchsten Stein. Lucrecia würde sie von dort oben bequem erreichen können.
    »Bist du verrückt?« entfuhr es Salome.
    »Nur neugierig.«
    Die raschelnden Laute kamen immer näher – und es wurden mehr. Salome rann ein Schauer nach dem anderen über den Rücken. Sie schlug beide Arme vor die Brust und klammerte die Finger fest um ihre Schultern.
    Lucrecia hatte den oberen Stein erreicht und streckte langsam ihre kleinen Hände nach der Dachluke aus. Angewidert zerriß sie die Spinnweben, mit denen die Scheibe überzogen war. Die Luke war nicht groß, und der Schmierfilm, der sie bedeckte, schien von beiden Seiten daran zu kleben. Vorsichtig wischte sie mit den Fingerspitzen darüber, und tatsächlich wurde das Glas ein wenig klarer. Bald hatte sie eine Fläche so groß wie ein Männerkopf freigelegt.
    »Paß bitte auf«, flehte Salome weinerlich. Die Vorstellung, daß Lucrecia etwas zustoßen könnte und sie ganz allein hier oben ausharren mußte, war unerträglich.
    Lucrecia richtete sich weiter auf, näherte sich mit dem Gesicht der Scheibe. Fahles Tageslicht legte sich über ihre Züge. Salome konnte sehen, wie sehr sie schwitzte.
    Etwas knallte von außen gegen das Glas. Lucrecia schrie auf, taumelte zurück, verlor das Gleichgewicht und stürzte nach hinten. Salome sprang instinktiv vor und versuchte, ihre Schwester aufzufangen. Statt dessen fielen sie beide zu Boden, und sogleich flossen ihnen Tränen über die Wangen.
    Lucrecia taumelte hoch, zerrte wie wild an Salomes Arm. Sie brachte kein Wort heraus, ihr Gesicht war eine starre Maske des Entsetzens. Sogar im Dämmerlicht sah Salome, wie bleich ihre Schwester geworden war.
    Gemeinsam stolperten sie in einen dunklen Winkel hinter einigen Steinen, der nach drei Seiten geschützt war. Mit angezogenen Knien schmiegten sie sich aneinander.
    »Was war das?« brachte Salome wimmernd hervor. »Was war das? «
    Lucrecia sah sie nicht an, stotterte nur etwas. Sie war völlig verstört.
    Das Tapsen auf dem Dach wurde zu einem aggressiven Scharren und Kratzen, kam jetzt von allen Seiten gleichzeitig. Einen Augenblick später ertönte ein schrilles Kreischen, wurde von vielen anderen Kehlen aufgenommen, und bald war der ganze Speicher, die ganze Welt von dem gräßlichen Brüllen erfüllt.
    Die Mädchen drängten sich noch enger aneinander, weinten jetzt hemmungslos. Nur einmal preßte Lucrecia ihre Lippen an Salomes Ohr und flüsterte etwas, so heiser und tonlos, daß Salome das Wort erst einen Augenblick später verstand.
    »Zähne …«
    ***
    Jakob Haupt war nie ein guter Reiter gewesen, und er war zu alt, um sich jetzt noch an Schmerzen im Hinterteil und einen steifen Rücken zu gewöhnen. Ihm machten genügend andere Gebrechen zu schaffen – seine Kniegelenke schienen bei jedem Schritt ganze Nervenbündel zu zermahlen, seine Finger zitterten bei seiner eigenen Unterschrift, ganz zu schweigen von den Zahnschmerzen, die ihn seit Monaten plagten –, und er würde gewiß nicht mehr versuchen, sich jetzt noch an den unbequemen Sitz im

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