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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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faszinierte. Es zeigte eine sonderbare geometrische Konstruktion, mehrere ineinander liegende Ringe, die von geschwungenen Linien gekreuzt wurden, welche von außen her zum Mittelpunkt des kleinsten Rings verliefen und durch ihn hindurch nach unten entwichen.
    Obwohl das Bild abstrakt und verwirrend erschien, erkannte Cendrine schon bald, daß es sich dabei um die schematische Darstellung eines Wirbelsturms handelte, genauer: um eine Skizze des Verlaufs seiner Luftströme!
    Aber das war unmöglich! Wie sollten die San, die diese Zeichnungen vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden angefertigt hatten, über derartiges Wissen verfügen?
    Qabbo stand mit einemmal neben ihr. »Die Große Schlange«, sagte er leise. »Du hast sie also gefunden.«
    »Das ist unglaublich«, entfuhr es ihr. »Es sieht aus wie eine wissenschaftliche Zeichnung, wie eine Art Diagramm. Und es ist das einzige Bild, das Tiefe besitzt. Alle anderen sind flach.«
    »Ein einfaches Bild für eine schwierige Sache«, sagte er schulterzuckend. »So wie alles hier.«
    Aber Cendrine hatte schon die nächste Entdeckung gemacht. Ein einzelner Mensch war unterhalb des Wirbelsturms in den Fels gekratzt worden, sehr viel kleiner als in den übrigen Darstellungen, offenbar in dem vergeblichen Versuch, den Größenverhältnissen zwischen Mensch und göttlicher Gewalt gerecht zu werden.
    »Ich kenne dieses Bild«, sagte sie tonlos. »Ich habe es in meinen Träumen gesehen. Der Mann, dem der Sturm folgt. Das ist er doch, nicht wahr?«
    »Er ist es«, bestätigte Qabbo. »Der Erste der Verfluchten.«
    »Der Erste«, wiederholte sie nachdenklich.
    »Der Erbauer der Ersten Stadt«, sagte Qabbo. »Er, der seine eigene Mutter zur Frau nahm. Er, der seinen Bruder erschlug.«
    »Kain …«
    »Nur ein Name. Einer von vielen. Aber derselbe Mann.«
    Cendrine konnte ihren Blick nicht von der Zeichnung lösen. »Er führt die Schlange durch die Wüste. Ist er ihr Meister?«
    »Die Große Schlange kennt nur einen einzigen Herrn«, entgegnete Qabbo kopfschüttelnd, »ihren Schöpfer. Ihm ist sie verpflichtet, ob sie will oder nicht. Dieser da« – er legte den Finger an die winzige Gestalt am Fuß des Wirbelsturms – »ist niemandes Herrn und niemandes Diener. Für das, was er getan hat, wurde er zur Unsterblichkeit verdammt, zur ewigen Wanderung über die Welt. Die Große Schlange folgt ihm, sie ist sein Wächter. Wohin er geht, dahin geht auch sie. Seit den ersten Tagen der Schöpfung irrt er durch die unendlichen Wüsten, und hinter ihm zieht die Große Schlange eine Spur der Zerstörung. Sie ist ein Teil jenes Bösen, das schon in anderen Schlangen Gestalt annahm – in jener, die das Chamäleon hinterging, genau wie in der, die einst die Verheißung eines Apfels in den Geist einer Frau pflanzte. Der Schöpfer benutzt sie, um den Brudermörder zu strafen.«
    »Der Mann, den ich in meinen Träumen sah, war tatsächlich Kain?«
    »Der Brudermörder, gewiß.«
    »Was will er? Warum verläßt er die Wüste?«
    »Es ist Teil seines Fluchs, Teil seiner Verdammnis. Viele Dinge kommen in diesen Tagen zusammen, viele Fäden bündeln sich.« Mit dem Zeigefinger fuhr er die Linien nach, die vom äußeren Ring der Wirbelsturmskizze zu ihrem Mittelpunkt verliefen. »Viele, viele Fäden«, murmelte er leise.
    »Aber warum ausgerechnet jetzt?« wollte Cendrine wissen.
    »Du bist eine Schamanin. Deine Anwesenheit im Haus der Kaskadens hat die verborgenen Kräfte in den Steinen geweckt – sie hat den Hauch der Großen Schlange geweckt, der in ihnen steckt. Glaub mir, du wirst es verstehen, zumindest ein wenig davon. Die Steine sind vollgesogen mit dem Leben derer, die in dem Haus wohnen. Sie sind wie Leuchtfeuer im Dunkeln, die der Schlange und ihrem Gefangenen den Weg weisen.« Qabbo nahm ihre Hand und rieb sie sanft zwischen seinen Fingern. »Es hat begonnen, Cendrine«, flüsterte er, »gleich nach deiner Ankunft.«
    ***
    Der Strom der Tiere hatte während der vergangenen drei Tage nachgelassen. Nur noch vereinzelt kamen kleinere Herden über die Hügel ins Tal hinab. Das Land östlich der Auasberge mußte wie leergefegt sein von allem tierischen Leben.
    Adrian streifte rund ums Anwesen und betrachtete nachdenklich die Verwüstungen. Erst die Heuschrecken, dann die Massenpanik der anderen Tiere. Es war nicht viel von den Gärten und Weinstöcken übriggeblieben. Am Vortag war eine Büffelherde durchs Tal getrampelt und hatte alles, was die anderen Tiere stehengelassen hatten, in Grund und

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