Göttin der Wüste
Geduld«, sagte Qabbo nur. Sie kannte ihn zu gut, als daß sie eine andere Antwort erwartet hätte.
Die Luft in der Höhle war trocken und völlig geruchlos. Der Weg, dem sie ins Innere der Felsen folgten, machte schon nach wenigen Schritten einen Knick. Dahinter wurde es heller, und bald stellte sich die vermeintliche Grotte als eine Art offener Hof im Zentrum der Felsformation heraus. Oberhalb der Wände wölbte sich die Felsdecke etwa zwei Meter weit nach innen, dann hörte sie einfach auf. Durch eine große runde Öffnung blickt man zum hellblauen Himmel empor. Ob die Decke irgendwann einmal eingestürzt war, ließ sich nicht mehr erkennen, Felsbrocken lagen keine herum. Der Boden bestand aus weißem Sand, so fein, als sei er durch ein Sieb gefiltert worden.
Die Wände waren sehr glatt und über und über mit Zeichnungen bedeckt. Cendrine begriff, daß es diese Darstellungen waren, die Qabbo ihr zeigen wollte. Die Ausführung war primitiv – dürre Strichfiguren ohne Gesichter oder andere Unterscheidungsmerkmale –, doch die Art und Weise, in der die einzelnen Elemente angeordnet waren, verlieh ihnen eine gewisse wilde Eleganz. Viele Bilder zeigten Ketten von Menschen, mit gespreizten Armen und Beinen, die sich an den Händen hielten. Auf Cendrine wirkten sie wie Tänzer, ihre Bewegungen waren von balletthafter Grazie. Auf anderen Zeichnungen waren diese Menschenformationen mit Darstellungen wilder Tiere kombiniert, die weit detaillierter gezeichnet waren. So entdeckte Cendrine ein Nashorn, das als schwarzer Umriß mit perfekten Proportionen wiedergegeben war. An einer anderen Stelle sah sie einen Hund oder Schakal, der am Ende einer Reihe tanzender Menschen stand. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte sie, daß es sich um eine Hyäne handeln mußte; die Gestalten daneben waren die verschiedenen Stadien der Verwandlung eines Menschen zum Tier. Cendrine bemerkte, daß Qabbo sie genau beobachtete, aber er ließ die Gelegenheit ungenutzt, etwas zum weiteren Schicksal des Kindes zu sagen, das sie ihm in Windhuk anvertraut hatte. Erstmals seit Wochen fragte sie sich wieder, ob der Kleine noch lebte.
Qabbo nahm wortlos ihre Hand und zog sie zur anderen Seite des Felsenhofes. Das Licht war gelblich, so als entzöge das Gestein den Sonnenstrahlen einen Großteil ihrer grellweißen Intensität.
Sie blieben vor einer Zeichnung stehen, die abermals eine Reihe tanzender oder springender Gestalten zeigte. Diesmal war deutlich zu erkennen, daß sie sich auf der Flucht befanden, denn hinter ihnen war ein großer, wellenförmiger Umriß in das Gestein graviert.
»Die Schlange war dem Menschen immer böse gesonnen«, sagte Qabbo und deutete mit einem Kopfnicken auf die Zeichnung. »Es gibt so viele Legenden darüber, daß sich die Menschen in grauer Vorzeit entschlossen, sie an diesem Ort zu sammeln und den Geist der Schlange auf diese Weise zu bannen.«
»Ohne großen Erfolg, scheint mir.«
Qabbo nickte bedächtig. »Die Schlange ist zu alt und zu mächtig, um sich so leicht überlisten zu lassen.«
»Dann war das alles hier umsonst?«
»Wie könnte eine Sammlung von Geschichten umsonst sein?«
Qabbo wirkte ernsthaft verwundert. »Keine Geschichte ist je umsonst. Keine, die je an einem Feuer erzählt oder in die Höhlen unserer Ahnen geritzt wurde. Diese Geschichten werden noch Bestand haben, wenn der Mensch längst von der Welt verschwunden ist. Geschichten sind Macht, wenn man sie richtig einsetzt. Und sie sind Magie.«
Cendrine zeigte auf die Zeichnungen, die sie zuerst betrachtet hatte.
»Darin gibt es keine Schlangen. Nur Hyänen und andere Tiere.«
»Wenn etwas Böses geschieht, ist es das Tun der Schlange«, sagte Qabbo geheimnisvoll. »Ein Mensch, der sich in eine Hyäne verwandelt, ist ein Sklave der Schlange. Er ist durch und durch schlecht. Schlechtigkeit ist immer ein Zeichen dafür, daß die Schlange nicht fern ist.«
»Was bedeutet dieses Bild?« fragte Cendrine und deutete auf eine Zeichnung, in der ein Mensch zwischen einer züngelnden Riesenschlange und einer Art Echse stand. Beide Tiere zerrten an den Händen des Menschen.
»Eine sehr alte Geschichte«, erwiderte Qabbo. »Sie erzählt davon, wie der Tod Macht über die Menschen bekam. Auch das haben wir der Schlange zu verdanken. Willst du die Geschichte hören?«
Cendrine nickte.
Der San deutete mit dem Zeigefinger auf das zweite Reptil. »Ihr nennt dieses Wesen Chamäleon«, erklärte er. »Einst war es der wichtigste Bote des Schöpfers. An
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