Göttin der Wüste
einem Tag zu Anbeginn der Zeit gab er ihm einen ganz besonderen Auftrag: ›Überbringe den Menschen eine frohe Nachricht: Zwar müssen sie sterben wie jedes andere Lebewesen, das über die Welt wandelt, doch bald schon werden sie wieder von den Toten auferstehen und weiterleben.‹ Das Chamäleon beeilte sich, die Botschaft zu überbringen. Geschwind kletterte es die Zweige des Lebensbaumes hinab, in dessen Wipfel der Schöpfer saß und an dessen Wurzeln die Menschen lebten. Doch das Chamäleon geriet bald außer Atem und setzte sich, um eine Rast zu machen. Da huschte die Schlange, die dem Chamäleon die ganze Zeit über gefolgt war, an ihm vorüber, schlängelte sich geradewegs am Stamm hinunter und erreichte den Boden der Welt als erste.
Die Schlange beneidete die Menschen um die Gunst des ewigen Lebens, die der Schöpfer ihnen gewährt hatte, und so verkündete sie: ›Ich komme mit einer Botschaft des Schöpfers zu euch Menschen. Er läßt euch wissen, daß alle von euch, die sterben werden, auf immer in ihren Gräbern ruhen und zu Staub zerfallen werden. Der Tod wird sie in Besitz nehmen und für alle Zeiten bei sich behalten.‹
Diese Worte hörten nicht nur die Menschen, sondern auch der Tod selbst, und er frohlockte bei ihrem Klang. Denn der Tod ist gierig und nimmersatt, und der Gedanke an die große Beute, die ihm bevorstand, machte ihn glücklich.
Bald kam auch das Chamäleon zu den Menschen und verkündete mit feierlichem Gebaren die wahre Botschaft, die ihm der Schöpfer mit auf den Weg gegeben hatte: ›Kein Mensch soll je für immer tot sein‹, sagte es. Die Menschen aber, die ihm zuhörten, lachten das Chamäleon aus: ›Wir glauben nur, was die Schlange uns erzählt hat, denn sie kam zuerst zu uns.‹ Dann riefen sie die Schlange herbei, um ihr vom vermeintlichen Betrug des Chamäleons zu berichten. Die Schlange freute sich über ihren Sieg und rief: ›Nur meine Worte sind die des Schöpfers! Nur ich verkünde euch die Wahrheit.‹
Da wurde das Chamäleon sehr zornig. Es packte die Schlange und zerrte sie mit sich den Lebensbaum hinauf, den ganzen langen Weg bis vor den Thron des Schöpfers. Jener hörte sich an, was vorgefallen war, und dann erklärte er die Schlange der Lüge und des Betrugs für schuldig. Aber er sagte auch: ›Ich kann das Unrecht, das geschehen ist, nicht mehr rückgängig machen. Die Schlange war zuerst bei den Menschen, und was sie verkündet hat, muß fortan bestehen bleiben. Der Tod ist bereits aus seinem Versteck gekrochen und tötet die Menschen, denn er hat gehört, was geredet wurde, und so glaubt er, daß er das Richtige tut.‹ Die Schlange lachte höhnisch, als sie dies hörte, denn sie glaubte sich als Gewinnerin des Streits. Doch der Schöpfer war noch nicht fertig mit ihr: ›Du, Schlange, sollst bestraft werden für das, was du angerichtet hast. Von nun an sollen alle Menschen dich hassen, und zwar so sehr, daß sie dich töten, sobald sie deiner ansichtig werden.‹
Und so kommt es, daß die Menschen sterben und nie wieder auferstehen können, und daß jeder, der eine Schlange sieht, seinen Speer ergreift und sie durchbohrt.«
Während Qabbo sprach, schienen die Figuren an den Felswänden vor Cendrines Augen zum Leben zu erwachen. Sie hatten einen wundersamen Reigen begonnen, der die Worte des San zu unterstreichen schien. Nun aber, da er geendet hatte, erstarrten die Bilder wieder zu ihrer ursprünglichen Form. Cendrine schrak auf wie aus einem Traum.
»All das steckt in einer so einfachen Zeichnung?« fragte sie verblüfft und schaute auf die drei primitiven Gestalten, die vor ihr in den Stein gekratzt waren, Schlange, Mensch und Chamäleon.
»O ja«, bestätigte Qabbo, »diese Geschichte und noch viele andere mehr. Wenn wir genug Zeit hätten, würden sie sich dir von selbst erzählen, du müßtest die Bilder nur genau ansehen.«
»Die Kraft des Schauens?« fragte sie unvermittelt.
Qabbo nickte, dann wandte er sich ab und ging an der Wand entlang, tief in die Betrachtung der Zeichnungen versunken.
Cendrine überlegte, ob sie ihm nachgehen sollte, entschied sich dann aber, diesen rätselhaften Ort auf eigene Faust zu erkunden. Bald schon entdeckte sie noch weit wundersamere Darstellungen, viele, auf denen die Schlange klar zu erkennen war, andere, in denen sie in fremde Körper geschlüpft war.
Schließlich – sie mußte schon eine halbe Stunde oder länger vor den Wänden umhergestreift sein – stieß sie auf ein Bild, das sie besonders
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