Göttin der Wüste
entlang.
»Komm schon«, rief sie ihr zu. »Komm mit!«
»Wo willst du denn hin?«
»Wirst du schon sehen.«
Salome gefiel es nicht, wenn ihre Zwillingsschwester Geheimnisse vor ihr hatte, doch im Augenblick spielte das keine Rolle. Jede Faser ihres Körpers war von Furcht erfüllt, ein unterschwelliges Brodeln, das auch Lucrecia zu schaffen machte.
Hand in Hand liefen die Mädchen durch den Nordflügel, über flauschige, vielfarbige Teppiche, auf denen ihre hastigen Schritte fast lautlos blieben. Die neue Köchin aus Rehoboth war ein Glücksgriff; sie hatte auch einige andere Aufgaben übernommen, die ansonsten den Dienstmädchen zukamen. Bis weiteres Personal gefunden war, entzündete sie an jedem Morgen die Lampen an den Wänden der Korridore – wenigstens in jenen Teilen des Hauses, in denen die Herrschaft verkehrte –, und so wurde der Gang auch jetzt von flackerndem Licht erfüllt. In den ersten Tagen nach der Flucht der Dienerschaft, als Madeleine sich persönlich um die Beleuchtung gekümmert hatte, waren die Flure von unheimlichem Zwielicht erfüllt gewesen – um Zeit und Mühe zu sparen, hatte Madeleine es vorgezogen, nur jede zweite Lampe anzuzünden.
Daß es jetzt wieder heller war, beruhigte Salome ein wenig. Das Halblicht der vergangenen Tage war ihr ebenso aufs Gemüt geschlagen wie Lucrecia. Die meiste Zeit über hatten sie sich in einem ihrer Zimmer verkrochen und versucht, mit Brettspielen oder Kartenlegen die Zeit totzuschlagen. Titus hatte ihnen ausdrücklich verboten, ins Freie zu gehen, aber dieses Verbot wäre gar nicht nötig gewesen. Keines der Mädchen wollte riskieren, plötzlich einem Löwen oder einem aufgebrachten Nashorn gegenüberzustehen.
Die beiden erreichten eine schmale Treppe im östlichsten Winkel des Nordflügels. Die Stufen führten hinauf zu den ehemaligen Dienstbotenzimmern. Nur Johannes und die Köchin wohnten jetzt noch dort oben, an entgegengesetzten Enden eines muffigen Korridors.
»Was willst du hier?« fragte Salome noch einmal, als Lucrecia sie die Stufen hinauf führte.
»Da oben sind wir sicher«, gab Lucrecia zurück. »Du hast doch auch Angst, oder?«
»Aber die Tiere kommen doch sowieso nicht ins Haus.«
»Die Tiere sind ja auch nur der Anfang von allem.«
»Wer sagt das? Du?«
»Sofia hat’s gesagt.«
Sofia war die Gärtnerin, die an Lucrecia einen Narren gefressen hatte. Wie die anderen Diener war auch sie nach der Heuschreckenflut verschwunden. Vorher mußte sie Lucrecia beiseite genommen und ihr mehr über das erzählt haben, was dem Tal und seinen Bewohnern bevorstand.
Salome blieb abrupt stehen. »Du mußt mir die Wahrheit sagen.«
Ungeduldig drehte sich Lucrecia zu ihrer Schwester um. »Worüber?«
»Was hat Sofia dir erzählt?«
Lucrecia trat von einem Fuß auf den anderen. Ihr war sichtlich unwohl dabei, die geheimen Ratschläge der San-Frau auszuplaudern.
»Sie hat gesagt, daß wir aufpassen sollen«, meinte sie schließlich.
»Toller Rat«, maulte Salome. »War das alles?«
Lucrecia schüttelte den Kopf und funkelte ihre Zwillingsschwester an. »Natürlich nicht.«
»Was noch?«
»Sofia hat gesagt, wir sollen uns unterm Dach verstecken, wenn es gefährlich wird. Nur wir zwei. Dann wären wir in Sicherheit.«
Salome blieb bockig, vor allem, weil es sie ärgerte, daß Sofia nur mit Lucrecia gesprochen hatte. »Aber es ist doch gar nicht mehr so gefährlich. Wenigstens nicht sehr. Die meisten Tiere sind doch schon weg.«
»Das war nur eine Warnung, hat Sofia gesagt.«
Salome schnitt ihr eine Grimasse. »Sofia hat gesagt, Sofia hat gesagt«, äffte sie ihre Schwester nach. »Sofia kann auch nicht alles wissen.«
»Sofia ist meine Freundin«, entgegnete Lucrecia trotzig.
»Und wo ist sie jetzt, deine Freundin?« Salome hatte plötzlich eine diebische Freude daran, Lucrecia weh zu tun. »Weggelaufen ist sie, genau wie alle anderen.«
Lucrecia schossen die Tränen in die Augen, und sie preßte wütend die Lippen aufeinander.
»Außerdem«, fuhr Salome triumphierend fort, »hat Fräulein Muck gesagt, daß Sofia schlechte Dinge erzählt. Sie hat gesagt, wir sollen ihr nicht zuhören.«
Lucrecias Gesicht hellte sich auf. »Und wo ist deine Freundin Fräulein Muck?« fragte sie gehässig. »Ich kann sie nirgends sehen.«
»Bei ihrem Bruder, das weißt du genau.«
»Vielleicht ist sie auch nur davongelaufen und kommt nie wieder.«
»Sie kommt wieder, das weißt du ganz genau!«
»Wenn du das sagst …«
Die beiden Mädchen
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