Göttin der Wüste
noch dazu würde sie dafür nach Südwest reisen müssen! Vielleicht würde sie auf diese Weise erfahren können, was Elias widerfahren war, ob er – und das mochte Gott geben! – überhaupt noch am Leben war.
So kam es, daß sie nun auf einem Bett lag, fast so breit wie das Zimmer, in dem sie und Elias groß geworden waren, und dabei allmählich realisierte, daß der Beginn ihrer neuen Zukunft endgültig besiegelt war. Es gab kein Verstecken mehr hinter Elias’ Schultern, nicht mehr den Vorwand, daß sie ihre Schule beenden mußte.
Nun mach das Beste daraus, dachte sie und schauderte, als sie die Konsequenz all dessen erfaßte. Sie war erwachsen, selbständig und auf sich gestellt. Sie übernahm Verantwortung, nicht nur für sich selbst, sondern zukünftig auch für die beiden Mädchen der Kaskadens. Und wenn es ihr zusätzlich gelang, etwas über Elias zu erfahren, um so besser.
Sie war wohl eingenickt, denn als sie mit einem Ruck den Kopf hob, war das Licht, das durch die hohen Erkerfenster fiel, merklich schwächer geworden. Wie lang hatte sie geschlafen? Eine Stunde, oder mehrere? Sicher wäre sie aufgewacht, hätte das Dienstmädchen sich bereits mit dem Abendessen gemeldet. Demnach konnte es noch nicht allzu spät sein.
Sie stand auf und stellte fest, daß ihr schwindelig war. Sie brauchte einen Augenblick, um ihre Orientierung wiederzuerlangen und auf unsicheren Füßen den Weg zur Wasserschüssel auf der Kommode zu finden. Nachdem sie ihr Gesicht gewaschen und ihre Handgelenke mit dem kalten Wasser benetzt hatte, ging es ihr ein wenig besser. Sie hätte gerne auf eigene Faust einen Rundgang durchs Haus unternommen, wenigstens durch den Flügel, in dem sie untergebracht war, aber sie fühlte sich zu müde und noch immer ein wenig zu wacklig auf den Beinen. Statt dessen trat sie in den Erker und blickte hinaus auf die Wiese im Schatten der Akazienbäume.
Im ersten Augenblick glaubte sie, dort unten stünde jemand und schaue zu ihr herauf. Erst beim zweiten Hinsehen wurde ihr klar, daß der Umriß, der sich dunkel gegen die Weinberge im Abendrot abzeichnete, keine menschliche Silhouette war. Hoch und schmal erhob sie sich, ein wenig wie ein Baumstumpf, nur viel höher. Unten war sie breiter als oben, und einen Moment lang sah sie aus wie ein Riese, der sich unter einem Bettuch verbarg, ein Gespenst aus einem der Kinderbücher im Regal.
Dann aber gewöhnten sich Cendrines Augen an das schwache Dämmerlicht, und sie bemerkte, daß die Oberfläche aus Sand oder Lehm bestand. Sie erinnerte sich an eine ähnliche Zeichnung in dem Buch über Afrika, das sie gerade las, und endlich erkannte sie, um was es sich handelte.
Es war ein Termitenbau, drei, vier Meter hoch und etwa dreißig Schritte vom Haus entfernt. Zwei Akazien flankierten ihn wie Wachtposten. Auf Cendrine wirkte das sonderbare Ding zu gleichen Teilen faszinierend und abstoßend. Einerseits wäre sie gerne näher herangegangen, um das Treiben der Insekten zu beobachten, zum anderen aber ekelte sie sich vor allem, was mehr als vier Beine hatte.
Widerwillig wandte sie sich vom Fenster ab, ging zur Zimmertür und blickte hinaus auf den Korridor. Er erstreckte sich mindestens zehn Meter nach links und ebenso weit nach rechts, beide Enden lagen im Schatten. Sie würde die Dienstboten bitten, hier draußen einige Lichter anzuzünden. Allerdings konnte sie keine Gaslampen entdecken, und sie sah sich schon selbst jeden Abend mit einem Kerzenleuchter über die endlosen Flure geistern. Sie schauderte bei diesem Gedanken, mußte aber gleich darauf schmunzeln. Irgendwie romantisch.
Da von dem Dienstmädchen mit dem Abendessen noch nichts zu sehen war – sie bekam allmählich Hunger, und vor allem wünschte sie sich eine große Tasse heißen Tee –, schloß sie die Tür wieder und schaute sich noch einmal im Zimmer um. Sie hätte den Inhalt ihrer Reisetaschen in den Kleiderschrank räumen sollen, hatte aber noch keine Lust dazu. Irgendwer würde die Sachen ohnehin waschen und bügeln müssen.
Statt dessen zog es sie erneut zum Erker. Als sie abermals aus dem Fenster über die Wiese blickte, war es ihr, als hätte der Termitenbau seine Form verändert. Aber das war unmöglich, nicht in so kurzer Zeit! Dennoch sah es aus, als hätte sich die Spitze des Baus verzweigt, fünf stumpfe Auswüchse gebildet, unterschiedlich hoch und leicht gekrümmt. Wie eine Hand mit ausgestreckten Fingern.
Wenn sie sich jetzt noch bewegt, dachte Cendrine mit nervösem
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