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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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die Welt der Schamanen gellten. Aber eine Bitte, ein Flehen? Nein, da war nichts dergleichen.
    Was, wenn die Rufe vielmehr Warnungen waren?
    Es hatte keinen Sinn, sich selbst mit solchen Fragen blind und taub für die Umgebung zu machen. Sie mußte die Augen offenhalten, mußte Qabbo beobachten, genauso wie die Landschaft, durch die er sie führte. Vielleicht bot sich ihr auf diese Weise ein Schlüssel zu den zahlreichen Rätseln, mit denen das Schicksal sie seit Monaten konfrontierte.
    Qabbos Voraussage erwies sich als richtig. Ein halber Tag verging, ehe sie endlich einen hoch aufgeworfenen Sandwall erreichten. Dahinter, verkündete der San, läge ihr Ziel.
    Cendrine stellte keine Fragen. Wortlos trieb sie ihr Kamel an seine Seite, dann trabten sie nebeneinander den Wall hinauf. Er war weit höher und steiler als die Hänge der umliegenden Dünen, und wer immer ihn aufgeworfen hatte, mußte dies mit etwas anderem als mit Spaten und Schaufel getan haben.
    Doch nicht einmal diese Erkenntnis bereitete Cendrine auf das Panorama vor, das sie auf dem höchsten Punkt des Sandwalls erwartete.
    Der Wall verlief keineswegs in einer geraden Linie von rechts nach links, wie sie von unten aus vermutet hatte. Vielmehr schien er spiralförmig zu sein, wobei die äußere Windung den Rand eines gigantischen Kraters bildete. Die inneren Drehungen der Spirale waren längst nicht so hoch, überragten nicht einmal die Dünen außerhalb des Kraters. Trotzdem war ihr Verlauf deutlich auszumachen, ein Schneckenhaus aus Sand, gewiß mehr als drei Kilometer im Durchmesser.
    Im Mittelpunkt der Spirale stand ein titanisches Bauwerk. Das Ende des Sandwirbels verlief durch ein offenes Portal ins Innere und verschwand dort in einem Schlund aus Finsternis; allein dieser Eingang mochte gut fünfzig Meter hoch und ebenso breit sein.
    Enorme Würfel aus kupferhaltigem Stein, rötlich schimmernd im Licht der Abendsonne, waren zu etwas zusammengesetzt worden, das weder Symmetrie noch Anmut besaß. Mindestens hundertfünfzig Meter hoch thronte das Bauwerk im Zentrum des bizarren Sandwirbels. Keine Spur von Leben war in seiner Nähe zu entdecken. Abgesehen von dem Portal gab es keine Öffnungen, weder Fenster noch Türen.
    Die Stille, die über der Szenerie lag, und die Tatsache, daß innerhalb des äußeren Walls kein Wind zu wehen schien, waren beängstigend. Der Bau lag in der Mitte des Kraters wie ein steinerner Schädel, aus dessen Schlund sich die Windungen der Sandspirale wie eine abnorme Zunge schlängelten.
    »Der Tempel der Großen Schlange«, flüsterte Qabbo andächtig.
    Nicht einmal seine Stimme vermochte Cendrine aus der Andacht zu reißen, in die sie die Aussicht über das wundersame Wüstental versetzt hatte. Erst nach einer Weile – und sehr, sehr langsam – löste sie ihren Blick von dem Bauwerk und sah Qabbo an.
    Er nickte ihr aufmunternd zu. »Du weißt, was zu tun ist.«
    »Nein«, gab sie zurück, aber tief im Inneren wußte sie es vielleicht doch, und wieder stellte sie keine Fragen, trieb statt dessen ihr Kamel über den Wall und dann den Hang hinunter.
    Der Sturm hat dieses Tal geschaffen, dachte sie wie in Trance. Die Große Schlange hat den Sand zu ihrem Abbild geformt. Sie war all die Jahrtausende hier, bis Selkirk sie aus ihrem Schlaf riß.
    Qabbo blieb auf der Anhöhe zurück. Nichts anderes hatte sie erwartet. Sie allein war es, die von der rätselhaften Stimme zum Tempel befohlen wurde.
    Ich bin hier, rief sie hinaus in die Welt der Schamanen, und sie spürte, daß ihr Ruf die Signale der Frau wie ein Lauffeuer entflammen ließ.
    Aus welchem Grund auch immer – ich bin hier!
    ***
    Das Torhaus war hinter Wolken aus aufgewirbeltem Staub verschwunden. Nur wenn man lange genug hinsah und wußte, wonach man zu suchen hatte, konnte man hin und wieder seinen klobigen Umriß ausmachen; in solchen Augenblicken sah es aus, als stemme sich das Gebäude gegen den Sturm und versuche, sich in die Nähe des Haupthauses zu schieben, ein verlorengegangenes Schaf, das die Sicherheit seiner Herde suchte.
    Adrian drehte mit versteinerten Zügen die Spitze eines Queues zwischen Daumen und Zeigefinger. Hier im Billardzimmer hatte er sich früher nie wohl gefühlt. Als viel zu bedrückend empfand er die Altherren-Atmosphäre dieses Raumes mit seinen getäfelten Wänden und Lampenschirmen aus dunkelroter Seide. Auch jetzt war er nicht hergekommen, um zu spielen, obwohl er beim Versuch, sich Normalität vorzugaukeln, sogar die Kugeln auf dem

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