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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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war ein Ort für Götter.
    Sie spürte, daß es ein Fehler war, auf das Portal zuzugehen. Im Näherkommen war das, was dahinterlag, nicht mehr ganz so finster, sie konnte jetzt die hohen Wände rechts und links erkennen, sah auch, daß tiefer im Inneren Licht durch die Decken fiel, vielleicht durch lecke Stellen im Dach oder aber helle Innenhöfe, die von den Baumeistern angelegt worden waren.
    Obwohl am Boden noch immer kein Wind zu spüren war, hörte Cendrine ihn jetzt weiter oben um die Kanten der Quader heulen, hörte, wie er in Spalten und Schächten und Schluchten säuselte. Hin und wieder rieselte Sand von oben herab. Sie fragte sich, seit wann der Tempel freigelegt war. Selkirk hatte offenbar nur die oberen Regionen ausgegraben, denn sie konnte deutlich die Stellen sehen, an denen große Stücke aus den äußeren Steinblöcken gebrochen worden waren, mehr als hundert Meter über ihr. Die fehlenden Teile mußten jene sein, die jetzt das Haus der Kaskadens schmückten. Schon vor ein paar Minuten hatte sie entdeckt, daß die Felsoberflächen mit Reliefen bedeckt waren. Kaum ein Meter, auf dem nicht verschlungene Muster, Darstellungen von Menschen und Göttern und archaische Schriftzeichen in das Gestein eingelassen waren.
    Hatte Selkirk gewußt, welchen Frevel er beging? Er war kein Dummkopf gewesen, er mußte sich im klaren darüber gewesen sein, daß er etwas zerstörte, das viele Jahrtausende ungestört im Sand geruht hatte. In seinem Fanatismus hatte ihn – wenn schon kein Respekt – nicht einmal sein gesunder Menschenverstand aufhalten können.
    Cendrine ertappte sich bei dem Gedanken, daß der Lord sein Schicksal verdient hatte – er selbst, gewiß, nicht aber seine Familie. Und ganz sicher nicht die Kaskadens, die ebenfalls sterben würden, wenn Cendrine die Große Schlange nicht aufhielt.
    Sie stieg vom Kamel und ließ es vor dem Eingang zurück. Es gab nichts, woran sie es hätte festbinden können. Egal.
    Ein letztes Mal atmete sie tief durch, dann trat sie unter das gewaltige Tor. Die letzten Sonnenstrahlen kamen von Westen und beschienen ihren Rücken. Ihr Schatten stach lang und schwarz ins Innere des Tempels. Cendrine folgte ihm wie einer dunklen Zwillingsschwester.
    Es gab zwei monströse Torflügel aus einem Material, das vielleicht Granit war, vielleicht auch versteinertes Holz. Aber diese Anlage konnte doch unmöglich so alt sein!
    Cendrine ging an den offenen Flügeln vorbei, dann durch eine Art Tunnel, so hoch wie das Portal. Die Decke schwebte mindestens fünfzig Meter über ihr. Der Boden war aus Sand, weich und unberührt.
    Sie vermutete, daß es irgendwo darunter steinerne Platten gab, wahrscheinlich ebenso kunstvoll gearbeitet wie die Verzierungen der Quader. Es war beruhigend, daß sogar die Mächte, die dieses Bauwerk errichtet hatten, wehrlos waren gegen den Wüstensand; eine Konfrontation mit etwas Allmächtigem hätte Cendrine womöglich in Panik versetzt, alles andere aber vermochte ihr kaum mehr Angst einzujagen. Sie wußte nicht, ob sie diesen Selbstschutz dem Ritual der San zu verdanken hatte oder ob er vielmehr eine Folge des Ausgeliefertseins war.
    Sie erreichte das Ende des Tunnels und gelangte auf einen Hof, in den von oben das Licht des Abendhimmels fiel. Rechts und links standen Reihen hoher Säulen, jede fast so breit wie ein kleines Haus. Auch ihre Oberflächen waren kunstvoll bearbeitet, doch Cendrine blieb nicht stehen, um nach Bedeutungen zu suchen. Irgendwer würde ihr auch so die nötigen Antworten geben.
    Der Mann, den du Kain nennst, ließ diesen Tempel erbauen.
    Cendrine fuhr herum. »Qabbo?« Nirgends war eine Menschenseele zu sehen. Ihre Spuren im Sand waren die einzigen weit und breit.
    Die Stimme des San war in ihren Gedanken erklungen. Einen Augenblick lang erwog sie, sich dagegen zu sperren, dann aber ließ sie zu, daß er weitersprach.
    Er fühlte sich in diesen Mauern sicher vor dem Fluch seines Schöpfers, der ihn zu ewiger Wanderschaft verdammt hatte.
    »Und«, fragte Cendrine in die Stille, »war er hier sicher?«
    Kain weihte den Tempel der Großen Schlange, dem sonderbarsten Geschöpf, das je das Licht der Sonne sah: Widersacher eures Gottes, zugleich aber seinem Willen Untertan, Kains Wächter, aber auch sein Verbündeter gegen jenen, der den Fluch über ihn sprach. Die Große Schlange hat vielerlei Ziele, sie sind für uns nicht immer zu begreifen. In diesem Tempel, dem ersten, der zu ihren Ehren errichtet wurde, ließ sie sich huldigen, und

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