Göttin der Wüste
die von Qabbo übertrafen – ganz im Gegenteil, sie fühlte sich ihm und seinem Wissen grenzenlos unterlegen, mochte er ihr auch noch so oft etwas anderes einreden wollen.
Wie üblich gab er auch diesmal keine Antwort auf ihre Frage. Statt dessen sagte er nur: »Wir müssen noch ein wenig weiter reiten.«
Cendrine verzog das Gesicht. »Hat es Sinn, wenn ich dich frage, wie lange noch?«
»Ob es Sinn hat?« Er grinste breit. »Wenn du meinst, ob die Frage den Weg vielleicht verkürzt, dann –«
»Qabbo!«
Er lachte meckernd. »Schon gut. Es ist nicht mehr weit. Noch ein halber Tagesritt, allerhöchstens.«
Seine letzten Worte hörte Cendrine nicht mehr. Schlagartig kam ihr ein Gedanke.
Das hier ist Henoch, realisierte sie mit abrupter Klarheit. Hier hat Selkirk gegraben. Hier sind Hunderte von Menschen für nichts anderes als seinen Fanatismus gestorben.
Und im selben Moment, da die Bilder aus ihrer Erinnerung traten, die gleichen Bilder, die Selkirks Tagebuch in ihr heraufbeschworen hatte, überkam sie ein vertrautes Gefühl von Schwindel und Ekel und Hilflosigkeit. Die Welt zog sich für einen Sekundenbruchteil vor ihren Augen zu einem winzigen Glutpunkt zusammen, entfaltete sich dann von neuem und war nur noch scheinbar dieselbe.
Um sie herum begann der Sand zu vibrieren, erst unmerklich, dann immer stärker, so als sei in der Tiefe etwas zum Leben erwacht. Die feinen Sandschichten, die sich auf den Turmspitzen Henochs abgelagert hatten, rieselten an den Kanten herab. Die Hänge der umliegenden Dünen zitterten und bebten, Sandkrusten zerbrachen und rutschten abwärts, lösten kleine Lawinen aus und wirbelten Staubwolken auf.
Neben Cendrines Kamel brach der Sand auf, und etwas, das dürr und bleich und knöchern war, kroch hervor, als hätte es dort die ganze Zeit auf der Lauer gelegen. Der Wind wehte Sand aus leeren Augenhöhlen und pfiff durch zerbrochene Zahnreihen. Gelbes Gebein schabte aneinander wie die Glieder einer hölzernen Marionette, die leblos in einer Ecke liegt, bis jemand an ihren Fäden zieht. Genauso unbeholfen waren auch die ersten Regungen des Gerippes, das sich aus dem Abgrund des Vergessens heraufscharrte, hoch ans Tageslicht, hoch an die Luft, den Wind und die Helligkeit.
Überall stiegen jetzt Gebeine und mumifizierte Gliedmaßen aus dem Boden empor, manche abrupt in einer Explosion aus Staub und Sand, andere ganz allmählich, als der Wind sie von der Last des Bodens befreite und die vergessenen Mysterien dieses Ortes offenbarte.
Es war wie im ausgetrockneten Flußbett in der Omaheke. Die Toten regten sich, schauten aus leblosen Augen um sich, suchten, fanden, packten zu. Finger stießen aus dem Boden, packten die Beine des Kamels, wollten sich daran emporziehen, zogen aber dabei nur das hilflose Tier nach unten, bis es schließlich bis zu den Kniegelenken im Sand steckte, sich aufbäumte und schrie, den gewaltigen Leib schüttelte und Cendrine abwarf.
Sie kam mit den Händen zuerst auf, rollte auf die Seite und bekam Sand in Mund und Augen. Der Boden war warm und weich, fast angenehm, und der Sturz bereitete ihr keine Schmerzen. Aber das Brennen in ihren Augen und der Moment der Blindheit, der darauf folgte, waren grauenvoll.
In einer Wolke aus aufstiebendem Sand schoß vor ihrem Gesicht etwas ans Licht, umwogt vom Geruch alten Leders. Wie gelähmt starrte sie auf eine mumifizierte Faust, sah, wie sie ihre Finger streckte, eine blasse Knospe, die zu etwas Tödlichem erblühte. Cendrine konnte ihren Kopf gerade noch herumreißen und den zuschnappenden Klauen entgehen. Zugleich spürte sie eine Berührung an ihrem linken Unterschenkel. Als sie schreiend herumwirbelte, sah sie, daß etwas daran hing wie ein bissiger Hund – zwei Hände klammerten sich an ihr Bein. Die Arme gingen in einen kopflosen Oberkörper über, der unterhalb des Bauches in einem Wust aus getrockneten Eingeweiden und freigelegter Wirbelsäule endete. Hüfte und Beine der Leiche mußten noch im Boden stecken, irgendwo in der Finsternis eines Massengrabes. Beim Versuch, sich nach oben zu ziehen, hatte sich der Torso selbst entzweigerissen.
Nein!
Sie schüttelte sich, strampelte mit beiden Beinen, bekam den Toten aber nicht los.
Nein! Nein! Nein!
Sie wehrte sich verzweifelt, schlug nach den morschen Armen und wurde zugleich von hinten mit Sand überschüttet, als sich in ihrem Rücken ein weiterer Leichnam erhob, seine Finger in ihr Haar krallte und einen ledrigen Arm um ihre Brust schlang.
Ich komme
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