Göttin der Wüste
seinen tauben Sohn an einem Geheimnis teilhaben lassen, das sie fortan für immer zu Verbündeten machte, mochte kommen, was wollte.
Seine Mutter ging im Raum auf und ab. Gerade als Adrian durch die Tür trat, erwachte sie aus brütendem Schweigen. Sie hatte ihren Sohn noch nicht bemerkt.
»Hättest du Valerian nicht von hier vertrieben«, fuhr sie ihren Mann an, »sähe alles ganz anders aus.«
Titus öffnete nicht einmal die Augen, spielte einfach weiter. »Mir war gar nicht bekannt, daß Valerian Einfluß auf das Wetter hat. Sollten wir einen Medizinmann in die Welt gesetzt haben?«
»Dein Sarkasmus ist unerträglich.«
»Wie deine Streitsucht, meine Liebe.«
Adrian sah beide nur im Profil, und so war es nicht ganz leicht, von ihren Lippen zu lesen. Er mußte sich konzentrieren, um das Gespräch zu verstehen.
Madeleine baute sich neben Titus am Flügel auf, die Arme in die Seiten gestemmt. »Wir hätten schon vor Tagen von hier fortgehen sollen. Hättest du dich nicht geweigert, hätten wir –«
»Ach, Madeleine«, seufzte Titus und ließ seine Finger über die Tasten tanzen, »wie oft soll ich noch sagen, daß ein paar Tiere und ein wenig schlechtes Wetter –«
Jetzt war sie es, die ihn unterbrach: »Die paar Tiere haben dort draußen einen Menschen zerfleischt!«
»Ein Unglück, gewiß. Aber du hast diesen Haupt doch ohnehin nicht leiden können.«
Adrian stockte der Atem, als Madeleine ausholte und ihrem Mann eine heftige Ohrfeige verpaßte. Sein Klavierspiel brach ab.
Titus Kaskaden erhob sich, und nie hatte er größer und massiger gewirkt als in diesem Augenblick, da er vor seiner Frau stand, beide Fäuste geballt und das Gesicht zu einer Grimasse der Wut verzerrt.
Adrian brach am ganzen Körper der Schweiß aus. »Ihr seid widerlich«, entfuhr es ihm tonlos.
Beide wandten sich zu ihm um, und beide wirkten weder überrascht noch betroffen. Vielmehr schien sich ihr Zorn jetzt auf ihn zu richten. Adrian fragte sich irritiert, ob es der Sturm war, der ihnen das antat. Der Sturm – oder das, was ihn verursachte.
»Was willst du?« fuhr Madeleine ihn an.
Etwas stimmte nicht. Er spürte es ganz deutlich. Seine Mutter hatte Valerian immer vorgezogen, aber noch nie war sie ihm derart harsch, ja bösartig begegnet. Und warum kam ihm sein Vater nicht zu Hilfe? Titus hatte immer eingegriffen, wenn Adrian ungerecht behandelt wurde.
Aber Titus stand nur wortlos da und blickte Adrian feindselig entgegen. Seine rechte Wange war feuerrot.
»Habt ihr die Mädchen gesehen?« fragte Adrian.
»Werden sich wohl herumtreiben«, gab Madeleine kalt zurück.
»Irgendwo im Haus«, setzte Titus hinzu.
Adrian nickte abgehackt, dann fuhr er herum und lief den Gang hinunter. Er redete sich ein, daß es keine Flucht war, daß er es nur besonders eilig hatte, Salome und Lucrecia zu finden. Aber in Wahrheit jagte ihm das Verhalten seiner Eltern eine Heidenangst ein.
Er rannte die Treppen hinauf und den Korridor entlang zu den Zimmern der Mädchen. Beide waren leer. Auch das Spielzimmer, das sie ohnehin kaum benutzten, war verlassen. Sie würden doch nicht nach draußen gegangen sein? Nein, so leichtsinnig waren sie nicht. Viel wahrscheinlicher war, daß sie sich versteckten. Irgendwo, wo sie sich in Sicherheit wähnten vor streunenden Tieren und dem Jahrhundertsturm dort draußen.
Ohne große Hoffnung riß er weitere Zimmertüren auf, blickte sich um, fand niemanden. Die Stille, die ihn schon sein Leben lang umgab, begann ihm zum erstenmal angst zu machen.
***
Bald nahm der Tempel der Großen Schlange den ganzen Himmel ein.
Von nahem schien das Bauwerk noch gigantischer, und obwohl Cendrine wußte, daß es nicht mehr als fünfhundert oder sechshundert Meter breit sein konnte, fühlte sie sich schrecklich verloren am Fuß der zyklopischen Fassade.
Ein Labyrinth aus verwitterten Quadern und Zylindern, gehauen aus dem erzhaltigen Felsgestein ferner Gebirge; ein steinernes Ungetüm, errichtet aus Blöcken, von denen jeder einzelne größer war als ein dreigeschossiges Haus; ein Titan aus einer Zeit, als Tausende Menschen beim Transport eines einzigen Felsquaders starben und niemand Anstoß daran nahm.
Dies hier war etwas anderes als die Gebäude Henochs, die Cendrine in ihrer Phantasie – oder in der Erinnerung eines Fremden? – gesehen hatte. Henoch war ein Ort heller Plätze und kunstvoller Türme gewesen, ein Ort für Marktstände, Wettkämpfe und prächtige Aufmärsche. Ein Ort für Menschen.
Dies hier aber
Weitere Kostenlose Bücher