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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Billardtisch ausgelegt hatte. Eingedenk von Haupts Tod erschien ihm im Augenblick alles andere unwichtig und kindisch.
    Er stand am Fenster, ließ gedankenverloren das Queue in seinen Händen kreisen und blickte hinaus in den tobenden Sturm. Dort draußen sah es aus, als wäre das gesamte Anwesen auf einen Schlag in die Wüste versetzt worden, mitten ins Herz eines Sandsturms. Er hatte noch nie gesehen, daß ein Unwetter in dieser Gegend solche Staubmengen vom Boden aufgewirbelt hatte. Allmählich kam er zu dem Schluß, daß der Sturm den Sand mitgebracht hatte. Wo immer die Böen herkommen mochten, sie trugen einen Teil der Wüste mit sich.
    Durch undichte Fugen der Fensterrahmen und Türen drang der Staub auch ins Innere des Hauses, sammelte sich auf den Fensterbänken und schuf kleine Wälle rund um Blumentöpfe und Vasen. Es war, als versuchte das Unwetter, das Tal ganz allmählich zuzuschütten.
    Haupt war tot.
    Wenn Adrian sich weit genug zur Scheibe vorbeugte, konnte er von hier aus den Kiesweg sehen, auf dem die Paviane den alten Mann zerrissen hatten. Staub und Sand bedeckten mittlerweile das Blut, dennoch konnte Adrian die Stelle genau erkennen. Er mußte sich zwingen, den Blick von dort abzuwenden, auch wenn ihm eine innere Stimme versicherte, daß es Unsinn war, sich Vorwürfe zu machen. Er hätte Haupt nicht retten können – niemand hätte das gekonnt. Im selben Augenblick, als die Affen aufgetaucht waren, hungrig und voller Panik, war sein Schicksal besiegelt gewesen.
    Aber wenn Adrian gestern, als er in Windhuk war, den Priester einfach aufgesucht hätte … ja, dann wäre Haupt wohl gar nicht erst hergekommen. Er könnte noch leben, wäre Adrian ihm nicht ausgewichen. Er könnte – Nein! Hör auf damit!
    Er machte es sich selbst immer schwerer, über den Tod des Freundes hinwegzukommen. Keine Schuld. Keine Vorwürfe mehr. Die Angst, die er seit Hereinbrechen des Sturms verspürte, wurde mit jeder Stunde stärker, drängender. Waren die Tiere wirklich nur vor dem Unwetter geflohen? Es hatte schon viele Stürme in den Bergen und jenseits davon in der Kalahari gegeben, aber von einer solchen Massenflucht hatte er noch nie gehört.
    Adrian fror bei dem Gedanken, daß es dort draußen beinahe dunkel war, obwohl die Sonne frühestens in ein, zwei Stunden untergehen würde. Die Sandwolken, die von den Sturmböen umhergetrieben wurden, saugten das Licht aus der Landschaft und verdeckten den Himmel. Adrian hatte einen Kerzenleuchter entzündet, um die finsteren Winkel des Billardzimmers auszuleuchten; tatsächlich aber hatte er damit nur neue Schatten geschaffen, dunkler und schärfer abgegrenzt als jene, mit denen das Zwielicht den Raum erfüllte.
    Seine Eltern stritten nun schon seit Stunden. Ihr Wortgefecht hatte sich vom Speisezimmer in die äußere Halle und schließlich ins Musikzimmer verlagert, wo Titus sich am Flügel niedergelassen hatte und seither mit betonter Ruhe spielte, während Madeleine ununterbrochen auf ihn einredete und ihm seine Gleichgültigkeit vorwarf.
    Das Billardzimmer lag am entgegengesetzten Ende des Anwesens. Adrian hatte gehofft, die Entfernung würde die nötige Distanz zu seinen Eltern schaffen, doch jetzt wurde ihm klar, daß das Alleinsein alles noch schlimmer machte. Das beste war, wenn er die Mädchen suchte. Er hatte sie schon seit geraumer Zeit nicht mehr gesehen und jetzt, da er sich schlagartig an sie erinnerte, machte er sich Vorwürfe, sich nicht schon früher um sie gekümmert zu haben. Seine Eltern waren viel zu sehr mit ihrem Streit beschäftigt. Niemand hatte sich Gedanken gemacht, wie all das auf die Zwillinge wirken mußte.
    Verdammt, wie hatte er sie nur so vernachlässigen können!
    Zornig schlug er das Queue auf die Kante des Billardtisches, so fest, daß die Stange zerbrach. Adrian schleuderte sie kurzerhand beiseite und löschte im Vorbeigehen die Kerzen. Als er die Tür hinter sich zuschlug, wurde der Raum wieder vom Zwielicht verschlungen.
    Als erstes eilte er zum Musikzimmer. Sein Vater schwelgte mit geschlossenen Augen in der Melodie, die seine Finger den Tasten entlockten. Adrian konnte sie nicht hören, aber er vermutete, daß Titus sein Lieblingsstück spielte, Schumanns Allegro affetuoso. Einmal, als Adrian noch klein war, hatte sein Vater versucht, ihm die Melodie mit Worten zu beschreiben. Es war ihm nicht gelungen, und trotzdem hatte Adrian in jenem Moment eine so glühende Liebe zu ihm empfunden wie niemals zuvor. Es war, als hätte Titus

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