Göttin der Wüste
»Das war euer Bruder. Kommt es oft vor, daß Valerian vor den Fenstern herumschleicht?«
Lucrecia schaute auf ihr Pult und malte mit dem Finger unsichtbare Muster aufs Holz. »Ich glaube nicht, daß es Valerian war.«
»Ohne jeden Zweifel«, widersprach Cendrine.
»Lucrecia meint«, sagte Salome, »daß es Adrian war.«
»Wer ist Adrian?«
»Unser zweiter Bruder«, sagte Lucrecia, und Salome fügte hinzu:
»Er und Valerian sind Zwillinge. Genau wie wir.«
Cendrine hatte nie zuvor gehört, daß eine Frau gleich zweimal Zwillinge zur Welt gebracht hatte. Zudem war bisher kein einziges Wort über Adrian gefallen, auch nicht während all der Stunden, die sie mit Valerian verbracht hatte.
»Adrian ist komisch«, sagte Lucrecia, aber Salome widersprach sogleich: »Adrian ist taub, nicht komisch.«
»Klar ist er komisch«, sagte Lucrecia, und sogleich begann zwischen den Schwestern ein Wortgeplänkel, in das Cendrine mit sanfter Stimme eingriff. »Vielleicht könnt ihr mir euren Bruder ja später einmal vorstellen.«
»Wenn wir ihn finden«, bemerkte Lucrecia, und wieder warf Salome ihr einen rügenden Seitenblick zu.
»Was soll das heißen?« In Cendrines Phantasie erstanden Erinnerungen an die alten Schauerromane, die sie als junges Mädchen verschlungen hatte. Bilder von ungeliebten Familienmitgliedern, manchmal mißgebildet, die auf Dachböden oder in Geheimkammern versteckt gehalten wurden. Wunderliche Eigenbrötler, die jungen Frauen im Wald nachstellten – und immer dann durch Fenster starrten, wenn die Heldinnen nicht damit rechneten.
»Adrian ist gerne in den Weinbergen«, sagte Salome. »Und er fährt oft nach Windhuk. Wir sehen ihn nur manchmal beim Essen.«
»Und er ist wirklich taub?« fragte Cendrine.
Salome nickte. »Als Kind hatte er schlimme Masern. Er ist fast dran gestorben. Seitdem hört er nichts mehr. Dafür kann er aber Lippenlesen.«
Lucrecia kicherte. »Die Eingeborenen sagen sogar, er könne Gedanken lesen.«
Auch ihre Schwester lachte. »Sie verstehen nicht, daß er zwar nicht merkt, wenn hinter seinem Rücken eine Vase auf dem Boden zerbricht, aber ganz genau weiß, was die Leute reden, wenn er vor ihnen steht.«
»Nun ja«, meinte Cendrine ein wenig hilflos, »ich werde ihn bestimmt bald kennenlernen.«
Die Mädchen schauten sich an, dann nickten beide und sagten im Chor: »Heute abend.«
»Was ist heute abend?« wollte Cendrine wissen.
Lucrecia grinste und sah dabei fast erwachsen aus. »Eine Überraschung. Warten Sie’s ab.«
***
Cendrine schätzte Überraschungen nicht besonders, doch diese versprach in der Tat amüsant zu werden. Am Abend, nachdem Madeleine sie durch die übrigen Teile des Hauses geführt und sie den Dienstboten vorgestellt hatte, versammelte sich die Familie im Musikzimmer im Erdgeschoß. Cendrine übte sich insgeheim darin, die Lage einzelner Räume im Gesamtgefüge des Anwesens zu bestimmen, und sie war ziemlich sicher, daß sich das Musikzimmer im Südosten befand, genau unterhalb des Morgenzimmers, wo die Familie – und vom kommenden Tag an auch sie selbst – ihr Frühstück einzunehmen pflegte.
Das Musikzimmer war ein länglicher Raum mit Tapeten in gediegenen Blautönen und Schmuckbordüren. Auch hier war die Decke mit Stuck abgesetzt, wenn auch längst nicht so verschwenderisch wie in der Galerie. In der Mitte des Zimmers hing ein kristallener Kronleuchter. Rechts standen drei Reihen mit gepolsterten Stühlen für die Zuhörer der Kammerkonzerte, die die Kaskadens gelegentlich für den deutschen Geldadel von Windhuk veranstalteten. Für Vorträge im Familienkreis stand indes auf der anderen Seite des Zimmers ein Rund aus ledernen Sesseln bereit, in unmittelbarer Nähe des Kamins. Diener hatten ein Feuer geschürt, im Raum herrschte eine angenehme Temperatur.
Unter dem Kronleuchter stand ein prachtvoller Flügel, daneben eine Harfe. Zudem gab es mehrere Notenständer und einige Glasvitrinen, in denen Violinen, Flöten und eine Gitarre aufbewahrt wurden. Ein Spinett, auf dem Madeleine hin und wieder musizierte, befand sich in einer Ecke des Zimmers unter dem Gemälde eines ernst dreinblickenden Paars, den Eltern von Titus Kaskaden, wie Cendrine am Nachmittag von der Hausherrin erfahren hatte. Sogleich hatte sie in den Augen der alten Dame auf dem Bild nach jener Garstigkeit gesucht, die Madeleine angedeutet hatte, und es fiel in der Tat nicht schwer, Madeleines Abneigung zu teilen.
Als Cendrine eintrat, waren die beiden Mädchen schon
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