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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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innere und die äußere Eingangshalle, außerdem der Speiseraum und das Musikzimmer. Hier oben im ersten Stock liegen der alte Salon, der heute nur noch selten genutzt wird, dann das Morgenzimmer, ein Gebetsraum und mein Schlafzimmer einschließlich ein paar kleinerer Nebengelasse. Lassen Sie sich von alldem nicht verunsichern – Sie werden sich schnell zurechtfinden. Im Südflügel, also dem rechten Arm des Hufeisens, liegen die Steinerne Halle, das Schulzimmer und das frühere Arbeitszimmer von Lord Selkirk. Es steht heute leer. Darüber, im ersten Stock, befindet sich die Galerie. Sie werden sie gleich sehen, sie ist wirklich prächtig. Alle übrigen Zimmer, die Schlafgemächer meines Mannes und der Kinder, die Dienstbotenunterkünfte, das Raucherzimmer, der Billardraum und der Küchenkomplex mit den Fleisch-, Fisch-, Milch- und Brotlagern, sie alle liegen im Nordflügel und seinen Anbauten. Wahrscheinlich werden Sie sich dort nicht allzu oft aufhalten.« Madeleine öffnete eine Tür, die vom Gang aus in den weitläufigen Salon führte. Er war nahezu unmöbliert. »Ich vergaß Ihr eigenes Zimmer. Es befindet sich in einem der hinteren Anbauten des Ostflügels, unweit der Kirche. Können Sie den Turm nicht von Ihrem Fenster aus sehen? Nein? Nun, das ist schade. Ein hübsches Gemäuer. Wenn man davorsteht, könnte man meinen, man befände sich irgendwo in Südengland.«
    Cendrine nickte benommen, als sei sie bereits dort gewesen und könne Madeleines Feststellung unterstreichen. Dieser Lord Selkirk mußte sehr darauf bedacht gewesen sein, ein Stück seiner Heimat zu rekonstruieren, und das ausgerechnet in solch einer Wildnis, umgeben von Savannen und endlosen Wüsten, von Raubtieren und kriegerischen Eingeborenenstämmen. In gewisser Weise fand sie die Vorstellung ein wenig traurig. Dieser Mann, der sein ganzes Leben in fernen Ländern herumgereist war, hatte offenbar so sehr an seiner einstigen Heimat gehangen, daß er ein Stück davon in der Fremde neu hatte erstehen lassen. Ob er in Indien und Vorderasien ähnliche Bauwerke hinterlassen hatte?
    Ihre Schritte hallten lautstark von den Wänden des verlassenen Salons wider. In einer Ecke befand sich eine weitere Tür, durch die sie hinaus in die Galerie traten, die Madeleine erwähnt hatte. Sie hatte nicht zuviel versprochen.
    Es handelte sich zweifellos um den größten Saal des Hauses, über dreißig Meter lang, ein holzgetäfelter Schlauch, der das gesamte Obergeschoß des Südflügels einnahm. Cendrine und Madeleine mußten einige Stufen hinabsteigen, um den glänzenden Dielenboden zu betreten. An den langen Seiten hatte der Saal große Fenster, dazwischen standen Bücherregale, gefüllt mit ledernen Folianten. Es gab zwei offene Kamine und eine ganze Reihe Sessel und Sofas. Die Decke war gewölbt, jeder freie Zentimeter mit prachtvollem Stuck verziert.
    »Liebe Güte«, staunte Cendrine, »wo hat der Lord nur die Handwerker herbekommen, um all das herzurichten?«
    »Diese Verzierungen wurden in England hergestellt und hierher verschifft«, erwiderte Madeleine, »wie überhaupt die meisten Accessoires im ganzen Haus. Ich möchte nicht wissen, wie viele Landhäuser er dafür hat ausschlachten lassen. Viele sind Originalteile aus dem siebzehnten Jahrhundert.«
    »Er muß unendlich reich gewesen sein«, entfuhr es Cendrine beeindruckt, ehe ihr die Bemerkung schlagartig leid tat. Sie redete wie ein dummes Schulkind.
    »Wir sind unendlich reich, meine Liebe«, sagte Madeleine ohne jeglichen Stolz in der Stimme, beinahe nüchtern. »Aber Selkirk … nun, ich glaube, man hätte das Geld nicht zählen können, das er mit seinen Ausgrabungen verdient hat. Es heißt, er habe bereits in seiner Jugend ein babylonisches Wüstengrab voller Gold entdeckt. Alles, was später hinzukam, war dagegen nur noch ein Taschengeld.«
    »Ihr Sohn erzählte, das Anwesen habe nach Selkirks Tod einige Jahre leer gestanden, ehe Sie es übernahmen. Wie kommt es, daß es keine Verwüstungen gab? Man sollte doch meinen, daß die Eingeborenen, die den Lord und seine Familie ermordeten, auch das Haus zerstörten.«
    »Gelobt sei der Aberglauben dieser Wilden!« rief Madeleine. Ihre heisere Reibeisenstimme wurde von den Wandtäfelungen zurückgeworfen. »Aus irgendwelchen Gründen fürchteten sie dieses Haus. Ich weiß nicht, wie es ihnen gelang, dem alten Selkirk und seiner Bande an den Kragen zu gehen – vielleicht hat er ein Picknick in den Weinbergen veranstaltet, weiß der Teufel –, aber

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