Göttin der Wüste
Morgenroth. Er wohnt in Windhuk.«
»Er kam jeden Tag den weiten Weg hierher«, fügte Lucrecia hinzu.
»Er hat uns gern gehabt, deshalb hat ihn die Entfernung nicht gestört.«
»Mir scheint, es kann nicht schwerfallen, euch zu mögen«, entgegnete Cendrine, um etwas Nettes zu sagen. »Hat Herr Morgenroth euch in allen Fächern unterrichtet?«
Die Mädchen nickten, und Cendrine setzte ihre Befragung fort, um sich ein Bild vom Unterrichtsstand der beiden zu machen. Hocherfreut stellte sie fest, daß der Lehrer aus Windhuk offenbar gute Arbeit geleistet hatte. Salome und Lucrecia verfügten über eine Bildung, die für ihr Alter beachtlich war. Zusätzlich hatte Cendrine vor, die beiden trotz ihrer Jugend mit den Grundzügen der Philosophie vertraut zu machen, ein Fach, das sie besonders mochte. Die Lehren der antiken Philosophen hatten sie immer dann aufgemuntert, wenn der hauswirtschaftliche Teil ihrer Ausbildung sie zur Verzweiflung trieb.
Den ersten Unterrichtstag aber verbrachte sie damit, ein wenig über sich selbst zu erzählen und dann vor allem den beiden Mädchen zuzuhören, ihre Vorlieben und Abneigungen kennenzulernen.
Salome erwies sich als die gesprächigere von beiden. Sie wirkte locker und fröhlich, manchmal sogar ausgelassen, vor allem dann, wenn es um ihre Pferde ging. Als Cendrine sie fragte, was sie gerne mochte, begann Salome bei ihren Leibgerichten, sprach weitschweifig von den Dienstboten, die sie gern hatte, und endete schließlich bei ihren Lieblingsbüchern. Dabei spielte sie häufig mit ihren Zöpfen, wickelte sie sich um die Finger und zupfte gedankenverloren daran.
Lucrecia war ganz anders. Sie wirkte nachdenklich und verhielt sich der neuen Gouvernante gegenüber zurückhaltend. Sie schien jedes Wort, das sie sprach, genau zu überdenken und achtete stets darauf, daß ihr blonder Pferdeschwanz über ihrer Schulter lag und nicht etwa über den Rücken herabfiel. Sie teilte die Begeisterung ihrer Schwester fürs Reiten, verlor sich aber nicht wie Salome in langen Schilderungen ihrer Gründe dafür. Ihr hatten es vor allem die alten Märchen und Legenden Afrikas angetan, die einige der Bediensteten den Kindern manchmal erzählten. Sie liebte die Geschichten über Teufel in den Tiefen der Wüste und über Löwendämonen, Sandgeister und Götter, die über die Savannen streiften. Cendrine konnte diese Faszination nachvollziehen, war aber nicht sicher, ob sie allzu glücklich war, daß sich ein so junges Mädchen dafür begeisterte. Doch solange Lucrecia keine schlechten Träume hatte, sollte es ihr recht sein. Sie bemerkte auch, daß Salome zu diesem Thema weitgehend schwieg; das Mädchen schien nicht ganz so angetan von den Geschichten der Dienstboten zu sein wie ihre Schwester, und Cendrine nahm sich vor, darauf zu achten, daß Salome sich nicht ängstigte.
Der Vormittag verstrich mit Erzählungen über Erlebnisse mit Eingeborenen und wilden Tieren, mit Schilderungen vom Leben im Haus und dem Tagesablauf der Mädchen, in die Cendrine immer wieder kleine Fragespiele einbaute, die ihr zu weiteren Erkenntnissen über den Bildungsstand der beiden verhalfen. Dabei bestätigte sich, was sie schon zu Anfang erkannt zu haben glaubte: Lucrecia und Salome waren überaus kluge Kinder. Madeleine und Titus Kaskaden durften stolz auf sie sein.
Vor allem überraschte Cendrine die Tatsache, daß die Mädchen den Eingeborenen gegenüber weit aufgeschlossener waren als Valerian und Madeleine. Offenbar standen die zwei mehr unter dem Einfluß ihres Vaters, der, nach allem, was Cendrine bisher gehört hatte, recht ungezwungen im Umgang mit den Schwarzen zu sein schien.
Über dem Eingang des Schulzimmers hing eine verglaste Uhr, und Cendrine stellte fest, daß es auf zwölf zuging, als sie mit einemmal eine Bewegung wahrnahm. Erst war sie so überrascht, daß sie gar nicht wußte, wie sie das kurze Zucken einordnen sollte, doch dann begriff sie: Im Glas der Uhr spiegelten sich die großen Fenster des Schulzimmers. In der Reflexion der hellen Rechtecke zeichnete sich eine Silhouette ab.
Als sie zum Fenster blickte, bewegte sich der Umriß nach rechts. Ihr blieb gerade noch genug Zeit, das Gesicht wiederzuerkennen, ehe die Gestalt verschwand. Sekunden später lag der Kieshof wieder verlassen da, sogar die Eingeborenenkinder auf dem Rasen waren fort.
Die Mädchen hatten offenbar nicht hingesehen. Erst jetzt, als sie Cendrines Reaktion bemerkten, schauten sie nach draußen.
Cendrine runzelte die Stirn.
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