Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
anmerken. Statt dessen nahm er auf einem Stuhl Platz, der dem Halbrund der Sessel gegenüberstand. Man hatte einen Ständer mit Notenblättern für ihn bereitgestellt, doch er schob ihn mit einer Bewegung beiseite, die verriet, daß sie zum Ritual seines abendlichen Spiels gehörte.
    Von den Mädchen hatte Cendrine erfahren, daß Adrians musikalische Vorträge zur täglichen Abendunterhaltung im Hause Kaskaden gehörten. Allerdings schien niemand, außer Madeleine, großen Wert darauf zu legen, am wenigsten Valerian, und eigentlich fand man sich nur zusammen, um Adrian einen Gefallen zu tun. Dabei, dachte Cendrine, sah er gar nicht aus, als würde er sich anderen aufdrängen.
    Doch in jedem Haus gab es gewisse Regeln, die Fremden wunderlich erscheinen mochten – das hatte man Cendrine während ihrer Ausbildung beigebracht. Und ganz gleich, was man selbst darüber denken mochte, es galt sich in jedem Fall unterzuordnen und die Gesetze der Herrschaft zu akzeptieren. Eine Gouvernante mochte gebildeter sein als das übrige Gesinde, doch letztlich galten für sie dieselben Regeln wie für jeden Diener und jedes Küchenmädchen.
    Sie erinnerte sich an ihre eigene Kindheit, an die Zeit, als ihre Eltern noch gelebt hatten. In ihrer Familie war es üblich gewesen, daß einer dem anderen widersprach, ganz gleich, worum es ging.
    »Ist das Wetter nicht schön?« mochte einer sagen, worauf ein anderer erwiderte: »Sieht aber aus, als ob es bald regnen würde.« So ging es tagein, tagaus und führte oft vom Kleinen ins Große, wobei sich ihre Eltern in wüsten Streitereien ergingen. Sie selbst war damals zu jung, als daß man sie da hineingezogen hätte, aber Elias hatte oft darunter leiden müssen. Immer wieder hatte Cendrine deutlich das Netzwerk gegenseitiger Ablehnung zu spüren bekommen, in dem die drei anderen gefangen waren. Und womöglich war ja gerade das der Grund dafür, daß der Tod der Eltern sie und Elias so eng zusammengeschweißt hatte.
    Zu Cendrines Rechten saßen die beiden Mädchen, zu ihrer Linken Madeleine. Bevor Adrian mit seinem Spiel begann, beugte sich die Hausherrin zu ihr herüber und flüsterte hinter vorgehaltener Hand:
    »Ganz gleich, was geschieht – klatschen Sie! Tun Sie, als ob es Ihnen gefällt.«
    »Aber –«
    »Nein, kein aber«, unterbrach Madeleine sie ungehalten und ohne ihre Hand zu senken. »Reden Sie nicht davon. Denken Sie daran, er weiß, was Sie sagen, auch wenn Sie flüstern. Seien Sie begeistert. Jeder hier hält sich daran, und auch Sie werden das tun!«
    »Natürlich«, erwiderte sie kühl.
    Adrian setzte das Instrument an die Lippen und begann. Erst glaubte Cendrine, er sei noch dabei, den richtigen Ton zu finden, doch als sie die gekünstelte Zufriedenheit auf den Gesichtern der anderen sah, erkannte sie, daß dies bereits zum eigentlichen Vortrag gehörte.
    Adrian spielte, und er spielte so falsch, daß es in den Ohren schmerzte. Keine zusammenhängende Melodie, nur eine Abfolge dissonanter Töne, ein Chaos aus unharmonischen Klängen. Spätestens nach zwei, drei Minuten wurde Cendrine regelrecht schwindelig davon. Immer wieder blickte sie verstohlen zu Madeleine hinüber, die ihre Zustimmung wie eine Maske zur Schau trug und freudig in die Hände klatschte, wenn Adrian sie ansah. Selbst Valerian, der mit diesem Familienritus weit weniger einverstanden zu sein schien als seine Mutter, rang sich ein Lächeln in die Richtung seines Bruders ab.
    Am größten aber war Cendrines Erstaunen über das Verhalten der beiden Mädchen. Sie schienen tatsächlich Freude an Adrians verquerem Spiel zu haben. Cendrine erschrak ein wenig, als ihr klar wurde, wie perfekt die beiden ihre Rolle spielten. Nie zuvor hatte sie Kinder erlebt, die sich derart zu verstellen wußten.
    Adrians Darbietung dauerte ein wenig über eine Viertelstunde, dann brach er sein Spiel ab, verbeugte sich nach allen Seiten und verließ das Zimmer.
    Die übrigen blieben schweigend zurück. Cendrine war die Situation so peinlich, daß sie nicht wußte, wohin sie schauen sollte.
    »Wundern Sie sich nicht, meine Liebe«, bat Madeleine schließlich ungewohnt sanftmütig und legte ihre Hand auf Cendrines Finger, die sich um die Armlehne des Sessels klammerten. »Adrian braucht diese Aufmunterung. Er neigt zum Trübsinn, schon seit seiner Kindheit. Solange er glaubt, uns abends eine Freude zu machen, hält sich seine Trauer in Grenzen.«
    »Wie lange geht das schon so?« fragte Cendrine, die sich nicht herausnehmen wollte,

Weitere Kostenlose Bücher