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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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beisammen zu sein, so daß ein dritter, der die Aufgaben lösen mochte, unweigerlich Salomes Aufmerksamkeit erregt hätte –, und Cendrine sprach Lucrecia auch nie darauf an. Während der zweiten Woche aber wuchs ihr Vertrauen in das Talent der Kleinen, und sie ließ sich allmählich überzeugen, daß Lucrecia über einen messerscharfen Verstand verfügte.
    Im Grunde stand ihre Schwester ihr darin kaum nach, doch Salome zog es vor, während des Unterrichts die Vögel vor dem Fenster zu beobachten oder den San-Kindern beim Bewässern des Rasens zuzusehen. Wenn Cendrine sie ansprach, war Salome sofort wieder bei der Sache, gab meist sogar die richtige Antwort; doch all das änderte nichts daran, daß sie eine Träumerin war. Sie schien harmlosen Mädchenphantasien nachzuhängen, dachte wahrscheinlich an ihre Pferde, auf denen sie und ihre Schwester täglich ausritten. Einmal gestand sie Cendrine, daß sie eigene Geschichten erfand, die sie jedoch niemals niederschrieb, aus Angst, sie könnten dann nicht mehr so wundervoll klingen wie in ihrer Vorstellung und dadurch all ihren Zauber verlieren.
    Daß Salome jedoch, im Gegensatz zu Lucrecia, nach wie vor kaum Interesse an den Legenden der Einheimischen zeigte, verriet deutlich, wie harmlos und unbeschwert ihre Traumgespinste waren. Das paßte auch zu ihrem übrigen Verhalten: Gefahren, Bedrohungen oder dunkle Schatten schien es in ihrer kleinen sonnendurchfluteten Welt nicht zu geben. Alles drehte sich nur ums Reiten, Lachen und um freundliches Geplauder.
    Valerian, der zum Zeitpunkt von Cendrines Ankunft einige Tage lang dienstfrei gehabt hatte, kehrte wieder nach Windhuk zurück, wo er im Fort der Schutztruppe stationiert war. Er übernachtete in der Garnison und ließ sich in den folgenden Tagen nicht mehr blicken. Cendrine war froh darüber, ihn nicht ständig in ihrer Nähe zu wissen; seine Arroganz war ihr zuwider, fast so sehr wie die Blicke, die er ihr bei jeder Gelegenheit zuwarf, manchmal herausfordernd, manchmal amüsiert, aber immer dreist und ungezogen.
    Auch von Adrian sah sie nur wenig. Nach jenem ersten und einzigen Gespräch in ihrem Zimmer hatte er sie kein weiteres Mal behelligt, und beinahe wünschte sie sich, er möge sie noch einmal ansprechen und ihr mehr über dieses Land und seine Vergangenheit erzählen, weitere Dinge, die nicht in den Geschichtsbüchern standen. Sie hatte eine Weile mit dem Gedanken gespielt, Madeleine auf den mysteriösen Untergang der Familie Selkirk anzusprechen, hatte sich dann aber dagegen entschieden. Gewiß war es ihr nicht recht, daß Cendrine die Wahrheit erfahren hatte – so es denn überhaupt die Wahrheit war –, und Cendrine wollte nicht, daß Adrian Schwierigkeiten mit seiner Mutter bekam.
    Sie fragte sich, was er den ganzen Tag über tat, wo er sich herumtrieb. Die Mädchen hatten ihr erzählt, er streife gerne durch die Weinberge, was wahrscheinlich bedeutete, daß er mit einigen der Schwarzen befreundet war, die dort arbeiteten. Gut möglich, daß er manche Stunde im Eingeborenendorf hinter dem Berg verbrachte. Auch sah sie ihn gelegentlich mit einem Pferdekarren in Richtung Windhuk davonfahren, und stets verstieß er dabei gegen den Ratschlag, den Valerian ihr am ersten Tag gegeben hatte. Adrian saß jedesmal allein auf dem Kutschbock, ohne bewaffneten Begleiter, und soweit sie erkennen konnte, hatte er nicht einmal ein Gewehr dabei. Was es in Windhuk gab, das den langen Weg dorthin wert war, wußte sie nicht. Auch von den Mädchen ließ sich nichts Näheres darüber erfahren. Adrian habe dort Freunde, war alles, was sie zu sagen wußten. Vielleicht eine Geliebte, argwöhnte Cendrine und spürte dabei einen Anflug von Neid. Keine Eifersucht auf Adrian, Gott bewahre, nur einen leichten Stich, den ihr die Ahnung versetzte, daß er etwas besaß, auf das sie selbst verzichten mußte.
    Abends stand sie jetzt öfter am Fenster und betrachtete den Termitenbau. Immer heftiger spürte sie die sonderbare Anziehungskraft, die von ihm ausging, etwas, das ihre Neugier schürte und zugleich ihre Abneigung erregte. Doch wenn er sich in jenen ersten Tagen tatsächlich verändert hatte, so blieb seine Form nun gleich. Mindestens drei Meter hoch stand er da, nach oben hin spitz zulaufend, und sein Umriß glich weder einer Hand noch einem Menschen. Cendrine beschloß, ihre Beobachtungen der ersten Abende allein auf ihre überreizte Phantasie zu schieben, auch wenn sie insgeheim nicht wirklich überzeugt davon war.
    Natürlich,

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