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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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davon, aber kaum jemand legt Wert auf die Wahrheit, am wenigsten meine Familie.«
    »Aber warum sollte Selkirk das getan haben?«
    »Die San und Herero glauben, der Wirbelsturm trage die Schuld. Sie behaupten, es sei ein Stamm böser Geister gewesen, der von dem Lord Besitz ergriffen und ihn zu den Morden angestiftet habe.«
    Cendrine schmunzelte. »Ist das auch Ihre Erklärung?«
    »Ich weiß nicht, warum Selkirk sie alle getötet hat. Ich glaube, daß der Sturm existiert hat, aber daß er Einfluß auf Selkirk nahm, halte ich für eher unwahrscheinlich.«
    »Und ich dachte schon, Sie wollten mich zum Aberglauben der Eingeborenen bekehren.«
    Adrian schüttelte lächelnd den Kopf. »Das werden die Eingeborenen selbst versuchen, dazu brauchen sie mich nicht.«
    Verblüfft sah sie, wie er aufstand und abermals nach seiner Oboe griff. »Was soll das heißen?«
    »Nur, daß ich nicht im Auftrag von irgendwelchen Medizinmännern oder Schamanen hier bin. Ich war nur der Meinung, Sie sollten die Wahrheit über dieses Haus und seinen Erbauer erfahren. Schließlich werden Sie eine Weile bei uns bleiben.«
    »Das hoffe ich«, stammelte sie irritiert, aber er hatte sich schon umgedreht und sah nicht mehr, daß sich ihre Lippen bewegten.
    Einen Moment lang wollte sie aufspringen und ihm nachgehen, mehr über das hören, was er über Selkirk, das Haus und die Ureinwohner dieses sonderbaren Landes wußte. Doch dann dachte sie, daß er es gewiß genau darauf anlegte, und diesen Triumph gönnte sie ihm nicht.
    Falls Adrian jedoch wirklich darauf wartete, von ihr zurückgehalten zu werden, so verriet er es durch nichts. »Gute Nacht«, sagte er, ohne sie noch einmal anzusehen. »Schlafen Sie gut.« Dann verließ er das Zimmer und zog die Tür hinter sich ins Schloß.
    Wieder hörte Cendrine keine Schritte auf dem dicken Teppich des Korridors. Geschwind sprang sie auf und drehte den Schlüssel herum. Ein wenig atemlos vor Aufregung lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Tür, blickte quer durch den Raum zum Erker und hinaus aus seinen hohen Fenstern.
    Der Mond schien hell und warf weißes Licht über die Wiese hinter dem Haus. Die Akazien bogen sich heftig im Wind, und in ihrer Mitte stand, noch höher geworden, der Termitenhügel.
    Cendrine eilte mit weiten Schritten ans Fenster und preßte das Gesicht gegen die Scheibe. Der Bau war tatsächlich gewachsen. Und er hatte sich abermals verformt. In nur einem Tag! Sie mußte sich täuschen.
    Das Glas beschlug von ihrem Atem, und einige Herzschläge lang war sie froh, nicht mehr hinaussehen zu können. Dann aber faßte sie sich ein Herz, wischte mit dem Handrücken über die Scheibe und starrte die bizarre Formation erneut von oben bis unten an.
    Und wenn es vielleicht gar kein Termitenbau war, sondern etwas, das die Gärtner aufgeschichtet hatten? Aber es hatte keinen Sinn, sich etwas vorzumachen. Sie war sicher, daß der Bau gewachsen war, mindestens um einen Meter; selbst aus der Entfernung war das deutlich zu erkennen, wobei ihr die Akazien rechts und links als Maßstab dienten.
    Verstörender aber noch war die Form, die er angenommen hatte. Er sah nicht länger aus wie eine Hand. Die Auswüchse an der Spitze waren verschwunden, hatten sich zu einem kugelförmigen Gebilde vereinigt, wie zu einem Kopf, und darunter, ja, das waren Schultern und Arme. Ein Golem aus Erde und Lehm und wirren Zweigen.
    Sie schrak zurück, und im selben Moment trieb der Sturm eine Wolke vor den Mond. Finsternis senkte sich über die Wiese, die schwankenden Akazien und den Umriß des Insektenpalastes.
    Cendrine prüfte noch einmal, ob die Tür wirklich verschlossen war, dann wusch sie sich mit bebenden Händen und ging hastig zu Bett.

KAPITEL 4
    Die seltsamen Vorkommnisse, die ihr in den beiden ersten Tagen im Hause Kaskaden widerfahren waren, blieben für zwei Wochen die einzigen ihrer Art.
    Vormittags und am frühen Nachmittag unterrichtete Cendrine die beiden Mädchen im Schulzimmer, wobei ihr besonders Salome ans Herz wuchs. Das Mädchen mit den zerfransten Zöpfen gefiel ihr wegen seines warmen, freundlichen Wesens, obgleich sich Lucrecia als die gelehrigere Schülerin erwies. In Mathematik und Botanik war Lucrecia ihrer Schwester bei weitem voraus, wenn Cendrine auch manchmal den Verdacht hegte, daß ihr bei den Hausaufgaben jemand behilflich war. Sie fand niemals Beweise dafür – stets waren alle Rechnungen in Lucrecias kindlicher Handschrift ausgeführt, zudem schienen die Mädchen Tag und Nacht

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