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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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sie hätte einfach hinaus in den Garten gehen können, um das sonderbare Ding näher in Augenschein zu nehmen, aber etwas hielt sie davon ab. Meist dachte sie tagsüber gar nicht daran, und erst abends, wenn sie allein in ihrem Zimmer saß, vor dem Kaminfeuer und mit einem Buch in der Hand, fiel ihr Blick wieder durch die Erkerfenster; dann erinnerte sie sich und schauderte.
    Hinzu kam, daß sie sich nicht eingestehen wollte, daß sie tatsächlich etwas Unerklärliches beobachtet hatte. Der Gang in den Garten wäre nichts als ein Eingeständnis ihrer Verwirrung gewesen, und dazu war sie nicht bereit.
    Während ihrer ersten Woche in Südwest lernte sie endlich den Hausherrn kennen. Titus Kaskaden war ein großer, schwergewichtiger Mann, grauhaarig und mit gezwirbeltem Schnauzbart. Seine Augen, blau wie die seiner ganzen Familie, blickten gutmütig, beinahe gönnerhaft, und Cendrine mochte ihn auf Anhieb. Er blieb zwei Tage, in denen er sich ausführlich von ihr schildern ließ, wie sie den Unterricht seiner Töchter zu gestalten gedachte, dann verabschiedete er sich wieder. Die meiste Zeit schien er damit zuzubringen, in Begleitung einiger Bewaffneter von Mine zu Mine zu reisen. In einem Land wie diesem bedeutete dies mühsame Ritte über gewaltige Entfernungen hinweg, oft behindert durch Dürre und Attacken wilder Tiere. Cendrine fand es ein wenig schade, daß Titus nicht länger blieb, denn auch er schien vieles über diese Gegend und ihre Ureinwohner zu wissen und geizte nicht mit Berichten darüber. Die beiden Mädchen weinten, als er davonritt, und als Salome sich trostsuchend an ihre Gouvernante statt an ihre Mutter wandte, bedachte Madeleine Cendrine mit einem finsteren Blick.
    Morgens, nach dem Gebet, begann Cendrine den Unterricht meist mit einem kurzen Gespräch über Philosophie. Sie hatte festgestellt, daß die Mädchen so früh am Tag am ehesten in der Lage waren, komplizierte Themen zu erörtern und darüber nachzudenken. Noch wurden sie nicht von Bediensteten abgelenkt, die arbeitseifrig über den Kieshof eilten, und ihr Kopf war noch nicht angefüllt von mathematischen Gleichungen, Grammatik und anderen nötigen Übeln.
    »Augustinus war einer der großen römischen Philosophen«, erklärte sie an einem Morgen zu Beginn ihrer dritten Woche im Hause Kaskaden. »Er lebte im vierten Jahrhundert nach Christus. Seine größte Überzeugung war, daß der Mensch die Welt um sich herum nur verstehen kann, wenn er in sich selbst, also in seine eigenen Gedanken und Empfindungen, blickt. Er war einer der ersten, der sagte: Begreife dich selbst, und du begreifst, was um dich herum geschieht. Damit begann für die Philosophie eine neue Epoche.«
    »Was ist das, eine Epoche?« fragte Salome.
    Lucrecia kam ihrer Lehrerin zuvor. »Ein Zeitalter, Dummkopf.«
    Salome schmollte. »Ich weiß dafür Dinge, die du nicht weißt.«
    »Ist gar nicht wahr.«
    »O doch.«
    Cendrine seufzte. »Ich bitte euch, hört auf. Natürlich weiß Salome manches, was du, Lucrecia, nicht weißt. Es wäre schlimm, wenn das nicht so wäre. Jeder Mensch braucht Geheimnisse.«
    »Haben Sie auch Geheimnisse?« fragte Salome.
    »Erzählen Sie uns eines?« bettelte Lucrecia, und schon war der Streit zwischen den beiden beigelegt. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich jetzt wieder gänzlich auf ihre Lehrerin.
    »Natürlich habe ich Geheimnisse«, erwiderte Cendrine mit mildem Lächeln. »Aber es wären keine mehr, würde ich euch davon erzählen.«
    »Bitte!« rief Lucrecia. »Nur eines!«
    Salome nickte begeistert. »Ein Geheimnis, Fräulein Muck. Ein klitzekleines.«
    »Ich könnte euch verraten, daß ich mich im Dunkeln fürchte.«
    Salome schien zu überlegen, ob sie sich damit zufriedengeben sollte, doch Lucrecia zog ein langes Gesicht. »Das ist kein Geheimnis. Jeder hat Angst im Dunkeln.«
    »Bei mir ist das was anderes«, gab Cendrine zurück und überlegte, ob sie wirklich darüber sprechen sollte. »Wißt ihr, meine Eltern sind schon lange tot, und ich habe viele Jahre allein mit meinem Bruder gewohnt. Wir waren nicht reich, so wie ihr, und manchmal ging uns sogar das Geld für die Kerzen aus. Trotzdem haben wir uns nie gefürchtet, auch wenn alles um uns dunkel war und wir wußten, wir würden kein Licht anzünden können, egal was passierte. Es hätten Einbrecher kommen können oder sonst irgend jemand, dem wir nicht begegnen wollten. Trotzdem hat uns das nie etwas ausgemacht. Wir haben uns ganz fest aneinandergekuschelt, und nichts und

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