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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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niemand konnte uns etwas anhaben.« Sie machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: »Aber eines Tages ging mein Bruder weg und ließ mich allein. Seitdem fürchte ich mich, wenn es dunkel ist, weil keiner da ist, der mich festhält.«
    Die Zwillinge wechselten einen Blick, dann sagte Salome: »Wir machen’s genauso, wenn wir Angst haben.«
    Cendrine nickte zufrieden. »Seht ihr.«
    »Und Sie haben ganz alleine mit Ihrem Bruder gewohnt?« fragte Lucrecia mit großen Augen. »Auch als Sie noch Kinder waren?«
    »Mein Bruder ist ein paar Jahre älter als ich. Aber, ja, wir wohnten schon in einem eigenen Quartier, als wir noch Kinder waren.«
    »Hatte denn jeder ein Zimmer für sich?«
    »Nein. Wir waren so arm, daß wir nur ein einziges Bett besaßen.«
    Salome winkte ab. »Das hätte mir nichts ausgemacht. Lucrecia und ich schlafen oft in einem Bett. Natürlich nur, wenn’s keiner merkt.«
    »Salome!« wurde sie von ihrer Schwester zurechtgewiesen.
    Aber Salome zuckte nur mit den Schultern. »Fräulein Muck hat uns doch auch ein Geheimnis verraten.«
    »Genau«, sagte Cendrine. »Also sind wir quitt. Und deshalb können wir jetzt mit dem Unterricht weitermachen.«
    Die Mädchen murrten, fügten sich aber.
    »Wir waren bei Augustinus. Einer seiner wichtigsten Sätze war: Unser Herz ist unruhig. Wie kann er das wohl gemeint haben? Lucrecia?«
    Das Mädchen verschränkte nachdenklich die Finger. »Vielleicht war er verliebt.«
    Salome kicherte.
    »Vielleicht war er das«, sagte Cendrine und lächelte, »aber das hat er damit nicht sagen wollen. Er meinte, daß mit uns Menschen etwas nicht stimme. Unruhe erfülle jeden von uns. Deshalb, so Augustinus, sehne sich jeder Mensch danach, diese Unruhe abzuschütteln. Seiner Ansicht nach war jeder Mensch zwar von Grunde auf als gutes Wesen geschaffen worden, doch die Sünde Evas habe jeden von uns verdorben.«
    »Aber was kann denn ich dafür, wenn Eva Hunger hatte?« fragte Salome mit großen Augen.
    »Eine gute Frage. Der einzelne Mensch trägt an ihrer Sünde natürlich keine Schuld. Trotzdem –«
    Das Knirschen der Tür schnitt Cendrines Vortrag mitten im Satz ab. Die Mädchen blickten überrascht auf, und auch Cendrine wandte sich zum Eingang.
    Madeleine Kaskaden kam herein, in Hose, Bluse und eine lederne Weste gekleidet. Cendrine glaubte, einen leichten Geruch nach Pferdestall zu bemerken, war aber nicht sicher. Madeleines Miene verhieß wenig Gutes.
    »Fräulein Muck, ich möchte Sie gerne unter vier Augen sprechen. Mädchen, der Unterricht ist fürs erste beendet. Ihr dürft gehen.«
    Die beiden hätten angesichts einer solchen Nachricht gewiß gejubelt, hätten sie nicht gespürt, daß Unheil in der Luft lag. Vor allem Salome erhob sich nur langsam, und Lucrecia mußte sie regelrecht hinaus auf den Flur ziehen.
    Madeleine schloß die Tür hinter den Kindern und trat auf Cendrine zu. »Ich habe mitangehört, worüber Sie vorhin gesprochen haben. Sie sollten wissen, daß derlei Unterrichtsthemen in diesem Haus nicht erwünscht sind.«
    Cendrine faßte sich. »Meinen Sie Augustinus im speziellen oder die Philosophie ganz allgemein?«
    »Meine Töchter sind zu guten Christen erzogen worden. Sie brauchen niemanden, der ihnen Zweifel und Flausen in den Kopf setzt.«
    »Aber Augustinus gilt als einer der größten christlichen Philosophen! Er widerspricht der Kirche nicht, ganz im Gegenteil.«
    »Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte Madeleine, aber die Schärfe in ihrer Stimme verriet, daß sie keineswegs zu einer Entschuldigung ausholte. »Die Philosophie hat immer wieder den Glauben der Menschen an Gott untergraben. Dergleichen können wir hier nicht gebrauchen, nicht in einem Land, in dem Gottes Wille mit Füßen getreten wird, in einem Land, das jahrtausendelang von Wilden und ihren Hirngespinsten beherrscht wurde und von dem manche sagen, es mache jeden zum Heiden, der sich hier niederläßt. Jeder brave Christenmensch, der auf dem Boden dieser gottlosen Gegend wandelt, ist ein Gewinn, sowohl für dieses Land als auch für die Menschheit insgesamt.« Ihr Tonfall war streng und ihr Blick vernichtend. »Deshalb, Fräulein Muck, keine Philosophie. Keine Zweifel, kein Hinterfragen altbewährter Dinge. Sie sind hier, um meinen Töchtern Bildung zu vermitteln, nicht, um sie auf blasphemische Gedanken zu bringen.«
    »Das lag nie in meiner Absicht!« entgegnete Cendrine empört.
    Madeleine hob eine Augenbraue, Widerspruch war sie nicht gewohnt. »Ich bin sicher, daß Sie

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