Göttin der Wüste
die das Gefalle des Bodens ausglichen. Mittendrin stand ein fein gearbeiteter Brunnen aus Marmor, der eher zu einem französischen Märchenschloß paßte als zum schweren viktorianischen Prunk dieses Anwesens.
Sie umrundete das Gebäude und betrachtete seine Außenseite zum erstenmal von allen Seiten. Bisher hatte sie das Haus nur von innen erforscht. Von außen kannte sie nur die Westseite mit Torhaus und Kieshof, also den Teil, der zur Straße nach Windhuk wies.
Sie hielt während ihres Weges rund zwanzig Meter Abstand zum Haus, damit man sie von drinnen nicht sofort bemerkte, schließlich unternahm sie diesen Spaziergang während ihrer Arbeitszeit.
Aufmerksam betrachtete sie die sandfarbenen Mauern und die hohen Fenster, in denen sich das Weißblau des afrikanischen Himmels spiegelte. Erstmals fiel ihr auf, daß die archaischen Strukturen, die sie überall im Inneren bemerkt hatte, auch in die Fassaden eingearbeitet waren. Hier und da verliefen zwischen den Fenstern altertümliche Säulen vom Boden bis zum Zinnenkranz des Daches. Sie waren von feinen Mustern überzogen und mit steinernen Bordüren abgesetzt. Hatte Selkirk Teile echter Tempel und Paläste kopieren lassen, vielleicht aus dem Heiligen Land oder dem Orient, oder hatten die Vorlagen nur in der Phantasie der Bildhauer existiert? Sie beschloß, Titus Kaskaden danach zu fragen, wenn er wieder nach Hause kam.
Die zahlreichen Gärtner, von denen Valerian ihr bei ihrer Ankunft erzählt hatte, verteilten sich auf die westlichen und südlichen Bereiche des Parks. Jenseits davon endeten die Strauchreihen und gingen in weite Wiesen über. Erst als Cendrine die Akazien sah, wurde ihr bewußt, daß eines der Fenster in der verwinkelten Ostfassade ihr eigenes sein mußte.
Diese Seite des Anwesens wurde vom Turm der Kirche beherrscht, vier Stockwerke hoch und am äußeren Rand des Gebäudekomplexes errichtet. Auch in seine Mauern hatte man archaische Säulen eingelassen, und Cendrine erkannte beim Näherkommen, daß sie mit fremdartigen Hieroglyphen überzogen waren. Sie bezweifelte, daß die strenggläubige Madeleine Kaskaden dergleichen guthieß.
Cendrine löste ihren Blick von der Kirche und hielt nach dem Fenster ihres Zimmers Ausschau. Es gab hier eine ganze Anzahl von Erkern, und schließlich mußte sie ihre Suche aufgeben. Dies also sollte irgendwann das Hotel werden, das Madeleine plante. Noch herrschte hinter allen Fenstern finstere Leere. Es fiel schwer, sich vorzustellen, daß hier wieder Leben einziehen und die engen Flure und versteckten Treppenfluchten mit Menschen, Stimmen und Gelächter erfüllt würden.
Sie trat näher ans Haus heran, drehte sich um und ließ ihren Blick über die baumbestandene Wiese schweifen. Es dauerte nur wenige Herzschläge, da entdeckte sie zwischen den Akazien den Termitenbau. Vor dem Panorama der sonnenbeschienenen Weinberge zeichnete sich sein Umriß scharf ab. Einen Moment lang schien es, als bewege sich seine Oberfläche, dann aber verharrte das Bild wieder wie eine farbig retuschierte Photographie.
Die vielblättrigen Äste der Akazien schwankten im Wind hin und her, ein durchdringendes Rascheln erfüllte die Luft. Cendrine spürte eine merkwürdige Benommenheit, und plötzlich war ihr gar, als höre sie einen Ruf, der sie aufforderte, näher zu kommen. Die fünfzig Meter zwischen der Fassade und dem Termitenbau schienen sich auf einen Schlag zusammenzuziehen. Irgendwo in ihrem Inneren wehrte sich noch immer etwas dagegen, näher an den Bau heranzutreten, doch was immer diesen letzten Anflug von Selbstbestimmung aufbrachte, es war nicht stark genug, Cendrine aufzuhalten.
Langsam, aber zielstrebig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Ihre Stiefeletten teilten das hohe Gras, und bald passierte sie die ersten Akazien. Ganz kurz hatte sie den Eindruck, als drücke der Wind die flüsternden Zweige zu ihr herab, von allen Seiten zugleich, doch das Gefühl verging, und wieder stand der Termitenbau im Mittelpunkt ihrer Wahrnehmung.
Der Hügel erschien ihr jetzt wunderschön, ein Bauwerk, wie es nur die Wildnis dieses Landes zustande bringen konnte. Er hatte nun die Form eines schmelzenden Schneemannes, etwa vier Meter hoch, der Kopf ein formloser Buckel, der Körper kegelförmig. Aus der sandigen Oberfläche wuchsen Hunderte von Zweigen hervor, sogar ganze Astgabeln, breit wie das Handgelenk eines Mannes. Manche ragten fast einen Meter weit nach außen, so daß es aussah, als sei der Bau um den Stamm eines Baumes
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