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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Demütigung, die sie durch die Hausherrin erfahren hatte, schmerzte noch immer. Doch was half schon alle Wut? Sie würde das Geld der Kaskadens für das Beste ausgeben, das die hiesige Haute Couture zu bieten hatte: ein Kleid mit Glockenrock und Puffärmeln vielleicht, mit Seidenschleppe und Federboa, einen Hut aus Velour mit Glaskorallen, Tüll und Spitzenapplikation. So schick, daß Madeleine erblaßte, wenn sie ihre Gouvernante darin sah – und dabei hoffentlich wehmütig an das viele Geld dachte, das sie dafür verschwendet hatte.
    Vernünftiger wäre es sicher gewesen, einen robusten Staubmantel zu kaufen, dazu hohe Stiefel und einen feinen Schleier gegen Insekten und Sandwehen. Aber Vernunft war das, was Madeleine von ihr erwartete, und Cendrine dachte nicht daran, diese Erwartung zu erfüllen.
    Ferdinand drehte seinen gewaltigen Schädel herum und schaute sie über die Schulter hinweg an. »Kaiser-Wilhelm-Straße?« fragte er mit tiefer Stimme.
    Dieser Name sagte Cendrine überhaupt nichts, und sie wollte schon die Schultern heben, als ihr etwas einfiel. »Zum Bahnhof«, wies sie den Schwarzen an.
    Ferdinand nickte gleichmütig, dann gab er den Pferden erneut die Peitsche. In einem Außenposten der Zivilisation wie Windhuk gab es gewiß nur einen einzigen Laden für Damenmoden, und den glaubte sie zu kennen.
    Wenig später half Ferdinand ihr vor dem Bahnhof vom Wagen. Sie sah etwa ein Dutzend Menschen in der Nähe, größtenteils Weiße in luftigen Mänteln. Die meisten trugen Hüte, die sie wegen des scharfen Windes festhalten mußten. Dürres Geäst wurde über die Straße geweht, und von irgendwoher drang der Geruch von Erbseneintopf.
    »Ich muß Besorgungen für die Dame des Hauses machen«, erklärte Ferdinand, und obwohl er stets die richtigen Worte benutzte, betonte er manche so sonderbar, daß Cendrine ihre Bedeutung eher erriet als verstand. Ein gutmütiges Lächeln spielte um seine Mundwinkel, und sie fand, daß er wie jemand wirkte, dem man vertrauen konnte.
    »Ist gut«, sagte sie, »ich finde mich schon zurecht. Holen Sie mich später hier wieder ab?«
    Ferdinand nickte wortlos, dann sprang er auf den Kutschbock und trieb die Pferde vorwärts.
    »In zwei Stunden?« rief Cendrine ihm hinterher, aber er hob nur die Hand zum Gruß, ohne sich umzuschauen. Sie war nicht sicher, ob er sie verstanden hatte.
    Sie raffte ihren leichten Sommermantel zusammen, den der Wind wie einen Ballon aufblähte, dann stapfte sie durch den Sand hinüber zur Ladenzeile auf der anderen Seite der Sandstraße. Es war Mittag, und ihre Befürchtung, daß die Geschäfte geschlossen sein könnten, erwies sich als richtig. Die Buchhandlung, die beiden Lebensmittelgeschäfte und der Porzellanladen waren verriegelt, ihre Besitzer hatten von innen Vorhänge vor die Türen gezogen. Eine alte Frau, der Cendrine auf dem hölzernen Gehweg begegnete, beargwöhnte sie ausdruckslos, und als Cendrine sich verwundert nach ihr umdrehte, stellte sie fest, daß die Frau hinter ihr her starrte. Cendrine lächelte verlegen, aber die Alte wandte sich nur um und ging davon.
    Überhaupt kam es ihr vor, als würde sie von allen Seiten beobachtet. Das bildest du dir ein, schalt sie sich ärgerlich. Doch der Eindruck blieb: Blicke, die ihr im Schatten breiter Hutkrempen folgten; Augen, die sich verstohlen verdrehten, um einen Blick auf sie zu erhaschen; schwarze Silhouetten im Sonnenlicht, die stehenblieben und in ihre Richtung starrten.
    Komm schon, sagte sie sich, niemand hier kennt dich. Niemand interessiert sich für dich.
    Ein lautes Scheppern schreckte sie auf. Ein Kesselflicker zog seinen Handkarren die Straße hinunter, gefolgt von einem jungen Schäferhund mit räudigem Fell. Der Mann passierte Cendrine, ohne sie zu beachten. Nur der Hund beschnüffelte ihre Schuhe und verschwand dann in der Staubwolke, die hinter dem Wagen seines Herrn zurückblieb.
    Cendrine trat vor das letzte Geschäft der kleinen Ladenzeile. Der schwarze Vorhang im Hintergrund des Schaufensters war nach wie vor zugezogen, das Eis am Fuß der Schaufensterpuppe geschmolzen und verdunstet. Jemand hatte der Wachsfigur schwarze Seidenunterwäsche übergestreift.
    Cendrine drückte gegen die Tür, doch auch sie war verschlossen. Ungehalten darüber, daß sie den langen Weg umsonst gemacht haben sollte, klopfte sie ans Fenster. Nichts regte sich.
    Beinahe gegen ihren Willen schaute sie auf zum Gesicht der Wachsfigur. Die Mundwinkel waren leicht nach oben gezogen, als hätte

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