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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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jemand das weiche Material mit den Fingern geknetet. Zugleich hatte sich die Unterlippe in der Hitze nach unten geschoben, was dem Ganzen die Anmutung eines grinsenden Harlekins verlieh, lachend und traurig zugleich. Auch die Glasaugen waren ein wenig nach innen gesunken und schauten fast flehend zum Himmel empor.
    Cendrine war nicht sicher, was es war, das sie an dieser Figur so faszinierte. Es war keine angenehme Anziehung, ganz ähnlich wie bei dem Termitenbau vor ihrem Fenster. In ihren Gedanken begannen sich beide Bilder zu überlappen: Der Termitenbau, zu einer riesenhaften Lehmgestalt verwachsen, trug das verzerrte Gesicht der Wachsfigur auf den Schultern, umrahmt vom wirren Spinnennetz der Zweige, die nach allen Richtungen aus seinen Flanken wuchsen.
    Es fiel ihr schwer, dieses Bild abzuschütteln, und es gelang ihr erst, als sie sich mit überhasteten Schritten von dem Laden entfernte und ihn mitsamt seiner stummen Wächterin hinter sich ließ.
    Ein Anflug von Panik aber blieb. Aufgebracht lief sie die Straße hinunter, fort vom Bahnhof und dem sonderbaren Laden. Es mußte noch andere Geschäfte hier geben. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß Madeleine Kaskaden in einem Laden wie diesem einkaufte. Andererseits mußte jeder, der hierher kam, Kompromisse eingehen, selbst eine Frau wie Madeleine.
    Während der Mittagszeit leerten sich zusehends die Straßen, nur selten verirrte sich noch jemand ins Freie. Die Deutschen, die hier lebten, hatten sich längst auf die Witterung eingestellt: Erreichte die Sonne ihren höchsten Stand, blieb man in den Häusern und erfrischte sich mit gekühltem Tee oder Wasser. Cendrine verfluchte allmählich die Tatsache, daß sie um diese Uhrzeit nach Windhuk gekommen war. Die wenigen Geschäfte, die sie auf ihrem weiteren Weg durch die Stadt fand, waren allesamt geschlossen.
    So irrte sie eine Stunde lang durch menschenleere Straßen, die meisten so breit und weitläufig wie Marktplätze. Sandwirbel tanzten in der Sonne, und immer wieder kreuzten Knäuel aus Zweigen ihren Weg, vom Wind über den ausgetrockneten Boden getrieben. Einmal führten ein paar Eingeborene eine Herde magerer Rinder über die Straße; als Cendrine die Stelle passierte, stürzte sich ein ganzer Schwarm Mücken auf sie. Sie kam sich schrecklich dumm und unbeholfen vor, während sie wie eine Verrückte auf offener Straße um sich schlug und strampelte. Die Insekten verschwanden, aber das Gefühl der Verlorenheit wurde immer stärker. Kein einziges Mal während der vergangenen Wochen hatte sie solches Heimweh nach Bremen verspürt wie in diesem Augenblick, allein auf dieser Straße, Tausende und Abertausende Kilometer von ihrer Heimat entfernt.
    Nach einer Weile aber wurde sie ruhiger, und während sie ohne Orientierung weiterstolperte, fand sie sich plötzlich im Viertel der Buschleute wieder.
    Die Holzhäuser der Kolonisten rechts und links der Straße hatte sie hinter sich gelassen, und statt ihrer standen da halbrunde Hütten aus Lehm und Geäst, dazwischen vereinzelte Schuppen, grob gemauert oder aus Latten zusammengezimmert. Eine Horde San-Kinder, nur mit Lendenschurzen bekleidet, tollte um einen knorrigen Baum. Einige saßen oben in den Ästen und bewarfen die übrigen mit Kugeln aus getrocknetem Schlamm. Einzelne Rinder und ein paar zerzauste Hühner standen im Schatten der Hütten, während Frauen mit nackten Oberkörpern an Feuerstellen vor den Türen kauerten, Hirsebrei kochten, Gefäße aus Ton herstellten oder sich gegenseitig Zöpfe flochten. Manche säugten vor den Augen aller ihre Neugeborenen, andere wuschen sich splitternackt in einem Wasserfaß. Es gab auch einige, vor allem alte Männer, die die Kleidung der Weißen trugen, zerschlissene Hemden und Hosen. Die meisten aber beließen es bei den traditionellen Tüchern und Lendenwickeln.
    Fast alle blickten auf, als Cendrine langsam an ihnen vorüberging, aber niemand sprach sie an. Sie erinnerte sich schlagartig an Valerians Worte über die Grausamkeit der Eingeborenen-Aufstände, an den unterdrückten Haß, der angeblich unter den gleichmütigen Mienen der Schwarzen loderte.
    Sie bekam Angst, gab sich aber alle Mühe, sie nicht zu zeigen. Trotzdem fehlte ihr der Mut, das unübersichtliche Viertel mit seinen planlosen Wegen und Trampelpfaden ganz zu durchqueren. Nach einigen Minuten machte sie kehrt und bemerkte schon bald, daß sie verfolgt wurde. Ein gutes Dutzend Kinder, zu jung, um auf den Farmen der weißen Kolonialherren zu arbeiten,

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